Kinder des Judas
Pflock aus dem Herzen zu ziehen, damit sie es freilegen konnte.
Ein Knistern erregte ihre Aufmerksamkeit.
Der Heilungsprozess setzte ein und schloss die Wunden mit neuer Haut, während die alte abfiel. Zerstörtes und zerschnittenes Gewebe verband sich neu, Adern wuchsen zusammen, und sogar das zerrissene Herz schloss das klaffende Loch in seiner Mitte. Die Upirina knurrte und riss mit neugewonnener Stärke an den Ketten.
»Ein unheiliges Wunder«, murmelte Scylla begeistert.
Die Gefangene hob den Kopf. »Lass mich gehen, Baronin, und ich schwöre, ich verlasse dein Land«, krächzte sie bettelnd mit wiedergewonnener Stimme.
Scylla wandte den Blick zu ihr. »Ich bin keine Baronin.«
Unvermittelt riss die Gefesselte an ihren Ketten, die Halterungen quietschten. Ohne den Pflock gewann sie an Stärke. »Wirst du mir auch die drei Kreuze auf die Stirn ritzen wie bei euren anderen Opfern?«, heulte sie und versuchte sich aufzubäumen; es misslang. Wütend fauchte sie. »Verflucht seien die Kinder des Judas!«
Scylla sah das rötliche Schimmern, das sich über ihren Körper legte, und verstand es als Ankündigung der Verwandlung. Rasch rammte sie den Pflock durch die dünne, gerade nachgewachsene Haut und die Rippenansätze ins Herz. Sofort erlosch das Leuchten.
Die Verwünschungen, die aus dem Mund der Upirina strömten, hörte Scylla kaum – doch ihre anderen Worte hallten inihrem Kopf nach. Warum hatte diese Untote die drei Kreuze, mit denen die Upire der Umgebung ihre Opfer kennzeichneten, mit Kindern des Judas in einem Atemzug genannt –? Hatte die Cognatio, die sich auf Judas Ischariot berief, damit etwas zu tun? Diesen Fragen würde sie nachgehen …
Sie vernahm die Schritte ihres Vaters und machte sich rasch wieder an die Arbeit. Was ihr die Upirina gesagt hatte, würde sie vorerst für sich behalten.
»Vater, siehst du das?« Sie stach mit dem Skalpell ins Herz, die Untote brüllte auf. Sie entfernte den Pflock für wenige Sekunden, und schon schloss sich der lange Riss. »Das ist unglaublich!«
Karol stellte sich an ihre Seite. »Wir bringen sie besser nach draußen. Ich möchte dir noch etwas zeigen.« Er drückte seiner Tochter eine Säge in die Hand. »Trenne ihr das rechte Bein und die linke Hand ab.«
Scylla tat, was ihr aufgetragen war. Welch ein Tag! Welch überwältigende Erfahrung!
Karol schleifte die verstümmelte Upirina zur Mühle hinaus, wo zu Scyllas Verwunderung bereits tiefste Nacht herrschte. Die Begeisterung hatte sie die Zeit vergessen lassen.
Er legte den nackten Leichnam vor die Stufen und sah zum Himmel hinauf. Der Mond warf seine Silberstrahlen auf das Land und raubte ihm die Farben; alles wurde in Schwarz und Weiß getaucht. »Schau genau hin, was geschieht.« Karol ging hinüber zur Scheune. »Ich bin gleich bei dir.«
Scylla setzte sich auf die oberste Stufe und betrachtete die Untote wie eine lauernde Katze ihre Beute. Es dauerte nicht lange, da regenerierte die Upirina in Windeseile!
Schicht um Schicht legte sich um die Knochen, neue Venen rankten wie blaue Wurzeln und wurden von frischem Fleisch umschlossen. Sogar das abgesägte Bein und die entfernte linkeHand wuchsen unter widerlichen Geräuschen nach. Es war ein unfassbarer Anblick!
Stöhnend richtete die alte Bäuerin den Körper in die Höhe, starrte auf den Pflock und riss ihn sich mit einem Schrei aus dem Brustkorb; Blut quoll schäumend über ihre Lippen und troff auf die nackte Haut, während sie versuchte, sich auf die Beine zu stellen.
Karol erschien aus der Scheune und trug einen Spaten auf der Schulter, den er seiner Tochter reichte. »Siehst du, was der Mond mit ihnen anrichtet? Lässt man sie liegen, ohne sie zu köpfen und zu verbrennen, erheben sie sich in seinem Licht mit verdoppelten Kräften.«
Die Bäuerin stand und taumelte, grollte und fletschte die Zähne, die zu einem kräftigen, spitzen Gebiss geworden waren.
Scylla erhob sich. »Was hat der Mond damit zu tun?«
»Was für die Menschen die Leben spendende Sonne, ist für die Kreaturen der Finsternis der Mond«, erklärte er. »Du musst sie enthaupten, Tochter. Es wird nicht mehr lange dauern, bevor sie zu mächtig für dich und mich wird.« Er klopfte ihr auf die Schulter. »Du weißt, wie es geht.«
Was sie gesehen hatte, brachte Scylla zu der Überzeugung, dass diese Wesen weder irdisch waren noch auf Geheiß des Allmächtigen auf der Erde wandelten. Das erklärte auch die tiefe Religiosität ihres Vaters, bei aller Leidenschaft
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