Kinder des Judas
beiläufigen Blick auf ihren nackten Körper werfen konnte, und scheute sogar davor zurück, sich selbst im Spiegel zu betrachten. Glücklicherweise hatte die Salbe gegen die Wunden geholfen, die sie sich im Messerkampf zugezogen hatte, und die Schnitte waren makellos verheilt.
Ihre rechte Hand langte auf den Rücken, ertastete den Griff des Dolches und zog ihn aus seiner Scheide. Als Scylla die Klinge betrachtete, hatten sich auf dem Stahl bereits erste rote Perlchen gebildet und breiteten sich weiter aus.
Sie musste wieder an die Worte der Upirina denken. Sie hatte seitdem nichts Neues über die Kinder des Judas in Erfahrung bringen können. Gleich stand sie vor der Cognatio, die sich ohne Ausnahme nachts traf, als scheuten die Mitglieder das Sonnenlicht. Wie Upire …
Es klopfte, und als Scylla zur Tür blickte, stand Karol auf der Schwelle. Er hatte sich umgezogen und glich mehr einem Adligen denn dem Mann, der sich in den Laboratorien vergrub. Der ungewohnte Anblick machte Scylla noch fahriger.
Karol sah seine Tochter vor dem Spiegel stehen und lächelte. »Dein ansprechendes Äußeres wird den Skeptikern in der Cognatio zwar nicht die Argumente nehmen, es dir aber einfacher machen«, beruhigte er sie. »Und natürlich wirst du ihnen beweisen, dass du dich nicht allein auf deine hübschen Zügeverlässt.« Er betrat das Zimmer. »Du hast das blaue Kleid angezogen?«
»Ja. Es erinnert mich an das Kleid, das Mutter so gerne trug. Es soll mir Glück bringen«, antwortete sie und strich die Falten über der Hüfte glatt.
Karol hielt ihr einen Arm hin. »Dann komm, Tochter. Die Besprechungen sind abgeschlossen. Es wird Zeit, dich meinen Freunden und Rivalen vorzustellen.« Gemeinsam gingen sie hinaus und schritten die Stufen hinab.
»Wieso nennst du sie Rivalen? Die Cognatio ist doch eine Gemeinschaft …«
»Wissenschaftler und Forscher sind stets Rivalen, ganz gleich ob sie befreundet sind oder nicht. Immer geht es darum, die besten Resultate vor allen anderen zu erreichen und sich an den enttäuschten Gesichtern zu ergötzen, wenn man ihnen die eigenen Erfolge unter die Nase reiben darf«, entgegnete er. »Vergiss das niemals und hüte alles, was du erforschst, wie dein Leben. Vertraue ihnen erst nach vielen Prüfungen.«
Scylla hätte die letzten Worte ebenso gut mitsprechen können. Karol wiederholte sie immer wieder. Ihr gegenüber hielt er sich allerdings nicht an seine eigenen Ratschläge und erklärte ihr alle Formeln, soweit sie in der Lage war, sie zu verstehen. Manchmal hatte sie das Gefühl, dass es Jahrhunderte bedurfte, bis sie sich alles merken konnte. »Das werde ich, Vater.«
Sie durchquerten die Küche. Vor dem Eingang in die Scheune blieb Karol stehen, drückte Scyllas Arm und bedachte sie mit einem langen Blick aus seinen braunen Augen. Es lagen so viele schlecht verborgene Gefühle darin, dass ihre Unsicherheit wuchs. »Ich werde dir gleich nicht mehr beistehen können, Tochter. Ich habe dich vorbereitet, so gut es mir möglich war. Was dir nun bevorsteht, ist wie dein Messerkampf gegen Frans. Doch deine Waffe gegen die Cognatio ist dein Verstand,Scylla.« Er strich ihr über den Schopf, wie er es früher getan hatte, als sie ein kleines Mädchen war.
Er öffnete die Tür und zog sie mit sich in die Wärme der Scheune. Stufe um Stufe ging es nach oben, bis sie in den großen Saal gelangten.
Scylla kannte den Anblick noch von ihrem ersten, heimlichen Aufenthalt in der Cognatio. Lampen verbreiteten strahlendes Licht, es waren vier Feuerschalen aufgestellt worden, in denen Kohlestücke glommen und die Luft in dem großen Raum erwärmten; gelegentlich zuckten grüne Flämmchen empor. Am Tisch saßen rechts und links die Männer und Frauen mit ihren schönen weißen Perücken und in ganz unterschiedlichen Kleidern, hinter ihren Stühlen standen wesentlich jüngere Männer und Frauen.
Zuerst dachte Scylla, dass es sich um Diener handelte, bis ihr der Gedanke kam, dass es die Elevinnen und Eleven der Wissenschaftler waren. Im Gegensatz zu ihr waren sie wohl bereits anerkannt worden. Auch sie trugen Perücken, die aber nicht so ausladend und exquisit anzuschauen waren; der Kleiderstil der Mentoren war aber bereits beim jeweiligen Nachfolger zu erkennen.
Beim Anblick eines Eleven, in dessen Perücke es gelegentlich blau aufleuchtete, schien ein Blitz in sie einzufahren. Dieses Funkeln erinnerte sie an jene Nacht vor vielen Jahren, als sie im Nebel herumgerirrt war! »Wer ist das, Vater?«,
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