Kinder des Mars
der Anzug, den Pera ihm gegeben hatte, nicht mehr drückte. Selbst nach der langen Reise, die er in diesen Kleidern verbracht hatte, empfand er sie noch immer als unangenehm. Er schob den lederbezogenen Stuhl etwas nach hinten, weg vom Fenster, weil ihn das Licht blendete. Als Vivian nach einigen Minuten zurückkam, lag sein Gesicht im Schatten. Erfreut nahm er das Getränk, das sie ihm anbot. Auf dem Tisch stellte sie eine volle Kristallkaraffe ab.
»Ich danke dir für deine Mühe. Es betrübt mich, dass ich dich umsonst hierher gebeten habe.«
»Umsonst war es nicht. Wäre ich nicht gekommen, würdest du ihn noch immer verdächtigen und wüsstest nicht, dass er dir nicht weiterhelfen kann.«
»Stimmt.« Vivian nickte langsam. »Erstaunlich. Selbst nach all den Jahren bist du nicht verbittert. Dabei wäre das gerade bei deinem Beruf zu erwarten. Doch du siehst die Dinge positiv.«
»Nein, überhaupt nicht. Ich sehe die Dinge realistisch«, korrigierte er sie. »Du weißt mehr als vorher und bist einen Schritt weiter, so oder so. Meine Untersuchung hat nicht ans Licht gebracht, was du zu sehen gehofft hattest. Dafür weißt du jetzt, dass du woanders suchen musst.«
»Das ist wahr. Und es ist viel wert. Du bist ein weiser Mann.«
»Und du bist ein sehr kluges Mädchen. Dir wird etwas einfallen. Falls du dann wieder meine Dienste benötigst, stehe ich dir jederzeit zur Verfügung.«
Vivian lächelte. »Wenn das so ist, warum hast du Tante Pera dann solchen Ärger gemacht?«
»Ihr Zauber hat auf mich keine Wirkung. Ich bin immun dagegen. Für mich ist sie keine faszinierende Schönheit, nur eine herrschsüchtige Alte. Außerdem schätze ich es nicht, herumkommandiert zu werden.« Dann lächelte er plötzlich ebenfalls. Falten gruben sich tief in seine Augenpartie und seine Mundwinkel rutschten unwillkürlich nach oben. »Du bist viel zu schlau und zu freundlich dafür. Du bittest. Wer könnte da nein sagen? Falls es doch vorkommt, und ich weiß, das ist schon geschehen, akzeptierst du es. Du zwingst niemanden.«
»Der freie Wille ist mir heilig. Außerdem sollte man andere so behandeln, wie man selbst behandelt werden möchte.«
»Dich hätte ich gern als Herrscherin. Kannst du Pera nicht ablösen?«
Vivian lachte. »Dieser Wunsch wird unerfüllt bleiben, gerade weil ich anderen ihren Willen lasse.«
Dem war nichts hinzuzufügen. Der Alte seufzte. Er hatte sein Glas bereits geleert. Vivian füllte nach.
»Das ist ein wahrer Festschmaus.« Der Inquisitor leckte sich über die Lippen. »Es ist lange her, dass ich das letzte Mal Blut getrunken habe.«
»Das Bedürfnis lässt mit der Zeit nach.«
Der Inquisitor wusste, wovon Vivian sprach. Seit seiner Geburt waren mehrere Jahrtausende vergangen. Er hatte am eigenen Leib festgestellt, wie das Verlangen, immer und überall zu trinken, abebbte. »Das Bedürfnis schon, der quälende Hunger, ja. Aber nicht der Genuss. Darum fällt es selbst einigen der Ältesten schwer, Maß zu halten.«
Nun sah Vivian gequält drein. »Du spielst auf Sila und Esur an. Ja, ich räume nach wie vor hinter ihnen auf. Ihre Blutbäder sind lästig und völlig außer Kontrolle, das ist nichts Neues. Solange die Menschen blutsaugende Unsterbliche für Fantasiegestalten aus Volkssagen und Büchern halten, werden sie uns nicht gefährlich. Was natürlich genau die Begründung ist, mit der die Brüder meines Großvaters jede Kritik vom Tisch wischen. Wenn mal nicht jemand rechtzeitig die Leichen verschwinden lässt, erfinden die Menschen alle möglichen Ursachen: Perverse Orgien, Drogenmissbrauch, Satanskulte – auch Tierangriffe sind als Erklärung immer noch beliebt. Mach dir also keine Sorgen.«
»Ich mache mir keine Sorgen. Mich finden sie nie. Und ich dachte eher an Pavor und Deimos, nicht an Sila und Esur.«
»Oh. Von ihnen habe ich nichts gehört, seit sie aus der Klinik entlassen wurden.«
Der Spanier sah sie verständnislos an.
»Sie waren Junkies«, fügte Vivian hinzu.
»Junkies?«
»So nennt man heute Süchtige. Drogensüchtige. Pavor und Deimos waren nicht nur Blutjunkies.«
»Sind in einer Klinik nicht für gewöhnlich Menschen?« Der Inquisitor dachte an die ganzen lebenden Blutbeutel auf zwei Beinen, die die Zwillinge zweifelsohne bis in die Kapillaren ausgesaugt hatten. Um diese zwei verrückten Onkel brauchte man Vivian wahrlich nicht beneiden.
»Ja.« Vivians Mund zuckte. »Wir alle haben fest mit einem Massaker gerechnet. Aber das genaue Gegenteil trat ein.
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