Kinder des Mars
schlecht. Kann ja nicht schaden. Hat er gesagt, wo wir anfangen sollen oder dir Literaturhinweise gegeben?«
Melissa grinste. »Er meinte, es wäre nicht schwierig, auf etwas zu stoßen.«
Ella zog fragend eine Augenbraue in die Höhe, dann begriff sie und verrollte die Augen. »Vampire?«
»Genau. Wir sollten nur aufpassen, dass wir uns nicht in der Fiktion und der Literatur verlieren, sondern uns auf historische Fakten des Vampirismus beschränken. Außerdem sagte Callaghan, es hätte in der Geschichte durchaus Blutopfer gegeben, die nichts mit Vampiren zu tun hatten, oder zumindest nicht mit ihnen in Verbindung gebracht wurden.«
»Gut. Lass uns anfangen.«
Ella konnte es nicht erwarten, von dem Tumult in ihrem Innern abgelenkt zu werden. Es störte sie nicht, dass die Aufgabe mit Gewalt zu tun hatte. Sie stellte keinerlei Verbindung her zwischen einem Mord mit einer Schusswaffe und Blutsaugern oder Menschenopfern. Hank Tennant hatte kaltblütig aus sicherer Distanz auf ihren Onkel gefeuert und war dann davongelaufen. Er war nicht an Georges Blut interessiert gewesen und hatte ihm nicht in den Hals gebissen oder ihm zu Ehren eines Gottes das Herz aus dem Leib gerissen, wie die Azteken es gerne taten.
Tennant war ein gewöhnlicher Verbrecher, kein Vollstrecker eines uralten religiösen Rituals oder Vampir. Ella freute sich darauf, dieser Realität mit einem Ausflug in die Vergangenheit und Fantasie zu entfliehen. Oft war ein gehöriges Stück Vorstellungskraft nötig, um sich aus lückenhaften Überlieferungen etwas Sinnvolles zusammenzureimen. Dabei konnte sie auf andere Gedanken kommen.
Den Rest des Tages verbrachten sie mit Recherche, erst im Internet, dann in der Bibliothek. Melissa kaute an ihren Haaren. Jedes Mal, wenn sie sich dabei ertappte, zog sie sie aus dem Mund und wickelte statt dessen eine Strähne um einen Finger. Ella versuchte, nicht vor Konzentration die Stirn zu runzeln und beim Lesen nicht die Augen zusammenzukneifen. Als es am Fenster zu dunkel wurde, trug Ella ihre Lektüre zu einem Tisch mit Leseleuchte und schaltete sie ein.
Dabei wurde ihr bewusst, wie erstaunlich es war, welche Bedeutung in früheren Zeiten dem Licht zugemessen wurde. Die Menschen hatten Angst vor Licht-Essern und wähnten gefährliche Wölfe und Drachen in der Dunkelheit, später auch Vampire. Da diese Wesen nie bei Tage zu sehen waren, glaubten die Menschen, im Licht vor ihnen sicher zu sein. Ella erklärte sich das damit, dass damals kein elektrisches Licht und schon gar kein UV-Licht bekannt gewesen war. Der Tagesstern war überdies nicht nur wichtig um Böses abzuwehren, sondern auch um die Ernte gedeihen zu lassen. So sicherte Licht das Überleben in mehrerer Hinsicht. Dies war auch der Grund für zahllose Sonnenkulte und Götter wie Helios oder Apoll.
Manche Kulturen versuchten, ihre Götter durch Blut gnädig zu stimmen. Diese Kulte waren verschwunden, was Ella ebenfalls mit dem modernen Fortschritt begründete. Der rote Saft hatte seine magische Kraft verloren, weil seine Geheimnisse im zwanzigsten Jahrhundert entschlüsselt wurden. Heutzutage konnte Blut mit einem einfachen Test in Gruppen eingeteilt werden, weitere Tests gaben Aufschluss über alle möglichen Krankheiten und sogar die DNA, überdies konnte es künstlich hergestellt werden.
Hätte es synthetisches Blut schon früher gegeben, wären einige Geschichten wohl nie entstanden. So aber glaubte man in der russischen Steppe, dass die Geister der Toten als himmlische Vampire wiedergeboren wurden, um sich an den Lebenden zu nähren. Die Indianer in Amerika meinten, das vergossene Blut des Großen Bären sei unabdingbar für den Wandel der Jahreszeiten. Er starb im Herbst, ruhte im Winter und wurde im Frühling wiedergeboren.
Neben Menschen, Tieren und Mischwesen wie Werwölfen und Wertigern, gab es eine Reihe blutrünstiger Götter, allen voran die der Azteken, doch auch die Maya brachten Menschenopfer dar und die indische Kali schmückte sich sogar mit den Überresten ihrer Opfer.
Wie Ella feststellte, wurden Blutsauger rund um den Globus verehrt und verfolgt. Nicht immer waren sie lichtscheu, abstoßend, unbesiegbar oder unerreichbar, ja manchmal schienen sie geradezu anziehend und ansteckend. Ella wusste nicht recht, was sie von diesen Widersprüchen halten sollte. Sie bemühte sich, betont wissenschaftlich, also ohne Vorurteile oder eine feste Meinung, vorzugehen. Sie betrachtete die mehr oder weniger historischen Berichte nüchtern und war
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