Kinder des Mars
Nacht von ihrem Äußeren hatte blenden lassen, hatte seine Lust und Eitelkeit, diese Schönheit abzuschleppen, mit dem Leben bezahlt. Victoria hatte kein Mitleid mit ihm. Sie bemitleidete nie ihre Opfer, denn alle hatten auf die eine oder andere Weise ihr Ende verdient. Sterben mussten sowieso alle, sie waren nur Menschen, und eine saubere Weste hatte niemand. Das war jedenfalls Victorias Meinung.
Über die Unsterblichen dachte sie genauso. Nicht einmal in ihrer eigenen Familie gab es jemanden, für den sie Mitleid empfand. Dieses Gefühl war ihr fremd. Es war überflüssig, denn die Schwachen verdienten es nicht, und die Starken brauchten es nicht. Das gleiche galt in Sachen Liebe. Lediglich für Mars, den Kriegsgott, empfand sie milden Respekt. Das war weitaus mehr, als sie jedem anderen zugestand, besonders ihrer biederen Schwester, dessen weiches Herz sich so um die Sterblichen sorgte.
Diesmal aber konnte sich Vivian wirklich nicht über Victorias Tischmanieren beklagen. Sie hatte bei ihrer Mahlzeit das Angenehme mit dem Nützlichen verbunden. Der Musiker sah gut aus, war leidlich talentiert, aber – noch – nicht berühmt, hatte nicht einmal einen Plattenvertrag. Victoria hatte ihn auf der Straße getroffen, als er betrunken in Schlangenlinien nach Hause lief. Er hatte sie sofort angegraben und sie war mit ihm gegangen. In seiner Bruchbude würde ihn niemand so schnell finden, denn er lebte allein und vermissen würde ihn keiner. Wer vermisste schon einen Junkie?
Victoria trank aus seiner malträtierten Armbeuge. Zusätzlich zu dem neuesten Stich öffneten sich durch ihr Saugen zahllose ältere, kaum verheilte Einstiche. Sie achtete darauf, ihm nicht zu viel abzuzapfen, denn man wusste nie, ob die Polizei nicht doch eine Obduktion anordnete, statt ihn einfach als Drogentoten in die Statistik einzutragen. Völlig blutleere Leichen fielen auf, aber wenn nicht mehr als zwei Liter fehlten, würde auch ein übereifriger Pathologe kaum Verdacht schöpfen, besonders, wenn die Leiche schon ein paar Tage alt war.
Zwei Liter waren Victoria eigentlich nicht genug, doch die Mäßigung hatte den Vorteil, dass sie ihr Opfer einfach liegen lassen konnte. Sie brauchte es nicht fortschaffen, oder vielmehr: Vivian musste nicht hinter ihr aufräumen, ja sie musste gar nichts davon erfahren, was Victoria eine Standpauke über kaltes Blut in Plastikbeuteln ersparte. Keiner schöpfte Verdacht, alle waren zufrieden, sogar der fixende Musiker.
Er spürte nicht, wie das Leben aus ihm wich. Es bestand sogar die vage Möglichkeit, dass er die Nacht überlebte, wenngleich die Chancen extrem gering waren. In diesem Fall sah Victoria ebenfalls keinen Grund zur Sorge. Gleich nachdem er sich den Schuss gesetzt hatte, war er bewusstlos geworden. Weit weg in seinem Drogentraumland merkte er nicht, dass Victoria an seiner Ellenbeuge saugte. Vielleicht träumte er, dass sie an einem anderen Körperteil lutschte und hatte den fantastischen Sex, den er ihr versprochen hatte.
Selbst wenn er im Stande sein sollte, die Wahrheit zu Protokoll zu geben – wer würde ihm Glauben schenken? Niemand glaubte mehr an Vampire, und an das Gerede eines Süchtigen schon dreimal nicht.
Victoria wischte sich mit dem Handrücken über den Mund und begutachtete ihr Opfer: Die einzigen Wunden waren die an seinem Arm, die er sich selbst zugefügt hatte. Sie hatte sich nicht im Rausch zu irgendeinem Fehler hinreißen lassen. Ihre Zähne hatte sie zurückgehalten und auch ihren Durst bezähmt. Die spärlichen Tropfen, die auf ihrem Seidenkleid gelandet waren, konnte man mit bloßem Auge nicht erkennen.
Sie erhob sich, ging ins Badezimmer, wusch sich Hände und Gesicht, musterte sich im Spiegel. Dann verließ sie, sauber und den dringendsten Hunger besänftigt, den Tatort und strebte ihrem eigenen Appartement entgegen. Dort wartete ihre Wildkatze und sie dachte daran, unterwegs noch etwas zu Fressen für das Tier zu besorgen.
12 Los Angeles
Ella stieg aus dem Flugzeug, hinaus in einen nassen Morgen. Ihr Flug am Freitagabend war wegen Unwetter gecancelt worden. Sie hatte bis Samstag früh am JFK Airport auf ihren Flieger nach L.A. gewartet. Erst dann ließ der Regen in New York nach. Die Gewitter mussten wirklich schlimm gewesen sein, wenn es sogar in L.A. regnete.
Müde und bedrückt fuhr sie mit einem Taxi in ihre kleine Wohnung. Sie verdrängte die Gedanken an die vergangene Woche und konzentrierte sich auf das, was unmittelbar vor ihr lag. An der Uni
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