Kinder des Mars
für alles offen, auch für die Möglichkeit, dass sich nicht alles logisch erklären ließ. Bei Religionen und Mythen war das nicht ungewöhnlich, ganz im Gegenteil.
Mehrere Stunden verbrachten Ella und Melissa in der Bibliothek. Am Ende saßen sie auf einem hohen Papierberg, den sie schnellstmöglich sichten mussten. Was von Nutzen war, würden sie dann zu Dr. Callaghan tragen, um wichtige Fragen mit ihm zu klären, bevor sie weitermachten.
»Das sind viel zu viele Kopien!« beschwerte sich Melissa. »Dazu kommt noch das ganze Zeug, das wir über Fernleihe bestellt haben und in den nächsten Tagen abholen müssen. Blöde Vampire, die sind echt die Pest.«
»Eine wahre Epidemie«, pflichtete Ella ihr bei. »Aber so können wir wenigstens auswählen. Themen, über die man gar nichts findet, sind viel schlimmer.« Sie überlegte kurz, während Melissa Papiere hin- und herschob. »Wir sollten die Arbeit aufteilen, damit wir schneller durchkommen. Wie wäre es mit zwei großen Themengebieten, das eine über die Antike, das andere über die Neuzeit? Eine beschäftigt sich mit Göttern, die andere mit Vampiren.«
»Kann ich die Vampire haben?« bat Melissa gleich.
»Hast du nicht eben noch über sie geschimpft?«
Melissa zuckte die Schultern. »Du hast Recht, es ist einfacher, Recherchen anzustellen, wenn es viel zu dem Thema gibt.«
»Zu den Blutkulten gibt es auch einiges«, sagte Ella. »Einverstanden, ich beschäftige mich mit der Religion der Azteken, Römer, Griechen, Babylonier, Inder...«
»Während ich mich mit den Nachtwesen auseinandersetze, die in Geschichten ihr Unwesen treiben«, ergänzte Melissa. »Was ist mit den historischen Personen, die angeblich Vampire wurden, Gilles de Rais und Vlad Tepes?«
»Die fallen in dein Gebiet, ebenso Bathory und Byron. Sie wurden im Zuge der Vampirhysterie seit dem 18. Jahrhundert zu Blutsaugern stilisiert und von der Sensationspresse missbraucht.«
»Missbraucht? Ist das dein Ernst?«
»Wir sind uns ja wohl einig, dass sie keine Vampire sind, oder?«
»Klar, schon gut.« Melissa sah auf die Uhr. »Lass uns zu Hause weiter machen, die Bibliothek schließt gleich.«
Sie sammelten ihre Unterlagen und verabredeten ein Treffen für den nächsten Tag. Dann fuhren sie in ihre Appartements. Keine befürchtete, im Schlaf von einem Vampir überrascht zu werden. Es war nur ein Referatsthema.
Ella war wieder mitten drin, mitten im Studium, mitten in L.A. Die Sonne vertrieb die dunklen Wolken, sowohl am Himmel als auch in ihrem Herzen. Der Sand unter ihren Füßen fühlte sich gut an bei ihren morgendlichen und abendlichen Spaziergängen. Der trockene Geruch von Büchern in der Bibliothek reizte ihre Nase zum Niesen. Sie konzentrierte sich ganz auf das Hier und Jetzt. New York schien sehr, sehr weit weg zu sein.
Am Montag saß Ella mit Melissa in der Cafeteria des UCLA Hauptgebäudes und wartete, dass ihr frischer Kaffee abkühlte, als ihr Telefon klingelte. Sie kramte es aus der Tasche und zögerte.
»Was ist?« erkundigte sich Melissa.
»Unbekannte Nummer«, antwortete Ella und starrte auf das Display. Sie wusste nicht, ob sie abnehmen sollte oder nicht. Ella blickte fragend Melissa an, deren hellbraunes glänzendes Haar Lichtreflexe der Mittagssonne spiegelte.
»Geh schon ran.«
Ella war dagegen, dann tat sie es doch und drückte die grüne Taste. »Hallo?« meldete sie sich vorsichtig, ohne ihren Namen zu nennen. Sie fürchtete, es könnte ein Aboverkäufer sein oder ein Marketingagent, der eine Umfrage machte.
»Hi, mein Name ist Jason Palmer. Ich bin Lukes Cousin.«
»Oh, hi.« Verfluchte Neugier , dachte Ella. Das ist fast schlimmer als eine Umfrage. Wie werde ich ihn jetzt möglichst schnell los? Sie bereute, abgenommen zu haben.
» Hi. Tut mir leid, ich möchte dir wirklich nicht auf die Nerven gehen.« Er musste es in ihrer Stimme gehört haben. Schon ihr verkniffes Hi hatte gereicht, um ihre Verärgerung auszudrücken. » Aber Luke macht sich Sorgen.«
»Klar.« Ella rollte mit den Augen. Melissa spitzte die Ohren und zog fragend die Augenbrauen in die Höhe. »Lukes Cousin«, flüsterte Ella, während Jason weitersprach.
»Bei dem, was dir passiert ist, kann ich es verstehen. Das muss sehr traumatisch für dich gewesen sein. Ein brutaler Überfall ist nichts Alltägliches und es gibt gute Gründe, sich nach so einem Erlebnis behandeln zu lassen. Von allein geht das nicht weg. Wenn du die Erinnerung verdrängst und deine Gefühle ignorierst, kommen
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