Kinder Des Nebels
glaube, es könnte hier etwas passieren, Ulef. Etwas, das mit den Obligatoren zu tun hat. Ich will jetzt nicht in diesem Unterschlupf sein.«
Ulef saß still da. »In Ordnung«, sagte er schließlich. »Wie lange wird es dauern?«
»Ich weiß es nicht«, gestand Vin. »Mindestens bis zum Abend. Aber wir müssen gehen.
Sofort.«
Er nickte langsam.
»Warte hier«, flüsterte Vin und drehte sich um. Sie warf einen raschen Blick auf Camon, der gerade über einen seiner eigenen Witze lachte. Dann bewegte sie sich leise durch die aschfleckige, verrauchte Kammer auf das Hinterzimmer zu.
Das Schlafquartier der Mannschaft war nichts anderes als ein einfacher, verlängerter Korridor, der mit Schlafsäcken ausgelegt war. Es war eng und unbequem hier, doch es war viel besser als in den kalten Gassen, in denen sie während ihrer Reisejahre mit Reen geschlafen hatte.
Gassen, an die ich mich vielleicht wieder gewöhnen muss,
dachte sie. Sie hatte dort draußen schon einmal überlebt. Und es würde ihr wieder gelingen.
Sie begab sich zu ihrem Schlafsack; die gedämpften Laute der lachenden und zechenden Männer drangen aus dem angrenzenden Raum herbei. Vin kniete nieder und untersuchte ihre wenigen Besitztümer. Falls der Mannschaft etwas zustoßen sollte, würde sie nicht mehr zu diesem Unterschlupf zurückkehren können. Nie wieder. Doch sie konnte ihren Schlafsack jetzt nicht mitnehmen, denn er war viel zu auffällig. Also blieb nur das kleine Kästchen mit ihren persönlichen Sachen übrig: ein Kiesel aus jeder Stadt, die sie besucht hatte; der Ohrring, von dem Reen gesagt hatte, dass er Vins Mutter gehört hätte, und ein Stück Obsidian mit dem Durchmesser einer großen Münze. Er war unregelmäßig zugeschnitten, und Reen hatte ihn als eine Art Glücksbringer bei sich getragen. Es war das Einzige, was er zurückgelassen hatte, als er sich vor einem halben Jahr von der Mannschaft fortgestohlen hatte. Und sie im Stich gelassen hatte.
Genau, wie er immer prophezeit hat,
sagte Vin streng zu sich selbst.
Ich hätte nie geglaubt, dass er wirklich gehen würde - und das war der Grund, warum er gegangen ist.
Sie nahm den Obsidian und steckte auch die Kiesel ein. Den Ohrring zog sie an - es war ein sehr einfaches Schmuckstück, kaum mehr als ein Knopf, nicht einmal des Stehlens wert, weswegen sie keine Bedenken gehabt hatte, ihn im Hinterzimmer zu lassen. Vin hatte ihn bisher nur selten getragen, denn sie befürchtete, dieser Schmuck könnte sie weiblicher machen.
Sie hatte kein Geld, aber Reen hatte ihr beigebracht, wie man bettelte und den Müll durchsuchte. Beides war schwierig im Letzten Reich und besonders in Luthadel, doch sie würde einen Weg finden, wenn es sein musste.
Vin ließ Kästchen und Schlafsack zurück und schlüpfte wieder in den Hauptraum. Vielleicht reagierte sie übertrieben, vielleicht würde der Mannschaft gar nichts zustoßen. Falls aber doch ... Wenn Reen ihr etwas beigebracht hatte, dann war es, wie man den eigenen Hals aus der Schlinge zog. Ulef mitzunehmen war eine gute Idee. Er hatte Beziehungen in Luthadel. Falls Camons Mannschaft etwas zustieß, konnte Ulef ihr und sich selbst bestimmt Arbeit besorgen ...
Vin erstarrte, als sie in den Hauptraum zurückkehrte. Ulef saß nicht mehr an dem Tisch, an dem sie ihn zurückgelassen hatte. Stattdessen stand er heimlichtuerisch im vorderen Teil des Raumes, neben dem Tresen. Neben ... Camon.
»Was soll das?« Camons Gesicht war so rot wie die Sonne. Er schleuderte seinen Schemel fort und sprang halb betrunken auf sie zu. »Willst weglaufen? Willst mich ans Ministerium verraten, du!«
Camons Schemel traf sie im Rücken und warf sie zu Boden. Schmerz flackerte zwischen ihren Schulterblättern auf. Einige Bandenmitglieder schrien laut, als der Schemel von ihr abprallte und auf die Bodendielen neben ihr schlug.
Vin lag benommen da. Dann gab ihr etwas in ihrem Inneren Stärke - etwas, das sie kannte, aber nicht verstand. Ihr war plötzlich nicht mehr schwindlig, und ihre Schmerzen nahmen ab. Unbeholfen kam sie auf die Beine.
Camon war bei ihr. Er versetzte ihr eine Ohrfeige, während sie aufstand. Ihr Kopf zuckte unter dem Schlag zur Seite und verdrehte ihr den Nacken so schmerzhaft, dass sie kaum spürte, wie sie wieder zu Boden ging.
Camon beugte sich über sie, packte ihr Hemd, zerrte sie da ran hoch und hob die Faust. Vin dachte nicht nach und sagte nichts. Nun blieb ihr nur eines zu tun. Sie setzte all ihr »Glück« in einer einzigen, wilden
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