Kinder Des Nebels
überwältigenden Frieden. Dieses Gefühl prallte wie ein plötzliches Gewicht gegen sie. Ihre Gefühle wurden besänftigt; es war, als hätte eine mächtige Hand sie weggewischt. Ihre Angst erlosch wie eine ausgeblasene Kerze, und sogar ihre Schmerzen schienen ihr unwichtig zu sein.
Camon hat soeben versucht, mich umzubringen!,
warnte der logische Teil ihres Verstandes.
Und jemand greift den Unterschlupf an. Ich muss weg von hier!
Doch ihre Empfindungen passten nicht zu ihrer Logik. Sie fühlte sich ... heiter. Sorglos. Und sie war ziemlich neugierig.
Jemand hatte gerade »Glück« bei ihr angewendet.
Irgendwie erkannte sie es, auch wenn sie es bei sich selbst nie zuvor verspürt hatte. Sie hielt neben dem Tisch inne, hatte eine Hand auf das Holz gelegt und drehte sich langsam um.
Der fremde Mann stand noch immer in der Tür. Er betrachtete sie eingehend und lächelte dann entwaffnend.
Was ist hier los?
Schließlich betrat der Fremde den Raum. Der Rest von Camons Mannschaft blieb an den Tischen sitzen. Die Männer wirkten überrascht, aber seltsamerweise nicht besorgt.
Er setzt bei ihnen allen »Glück« ein. Aber ... wie schafft er das bei so vielen?
Vin war es bisher nie gelungen, mehr »Glück« zu sammeln, als für einen gelegentlichen kleinen Anstoß nötig war.
Als der Neuankömmling endlich eintrat, sah Vin, dass hinter ihm ein zweiter Mann stand. Er war weniger beeindruckend, kleiner, hatte einen schmalen dunklen Bart und kurzes, glattes Haar. Auch er trug die Kleidung eines Adligen, aber sie war nicht so elegant geschnitten.
Auf der anderen Seite richtete sich Camon unter Stöhnen auf und presste die Hände gegen den Kopf. Er starrte die Neuankömmlinge an. »Meister Docksohn! Äh, also, das ist ja eine Überraschung!«
»Allerdings«, meinte der kleinere Mann, bei dem es sich offenbar um Docksohn handelte. Vin runzelte die Stirn und stellte fest, dass diese Männer ihr irgendwie vertraut vorkamen. Sie musste sie irgendwo schon einmal gesehen haben.
Das Amt für Finanzwesen. Sie haben im Vorzimmer gesessen, als ich ging.
Camon richtete sich ganz auf und betrachtete den blonden Mann. Er schaute auf dessen Hände, die mit seltsamen, übereinanderliegenden Narben bedeckt waren. »Beim Obersten Herrscher ...«, murmelte er. »Der Überlebende von Hathsin!«
Vin zog die Stirn noch krauser. Diese Bezeichnung war ihr völlig unbekannt. Sollte sie diesen Mann kennen? Trotz des Friedens, den sie verspürte, pochten ihre Wunden noch, und ihr war schwindlig. Sie stützte sich auf dem Tisch ab, setzte sich aber nicht.
Wer immer dieser Neuankömmling war, Camon hielt ihn offenbar für wichtig. »Meister Kelsier!«, platzte er heraus. »Welch seltene Ehre!«
Der fremde Mann - Kelsier - schüttelte den Kopf. »Weißt du, ich bin wirklich nicht daran interessiert, deinem Geplapper zuzuhören.«
Camon stieß einen Schmerzensschrei aus und wurde wieder nach hinten geschleudert. Kelsier hatte keinerlei Bewegung dazu vollführt. Camon brach auf dem Boden zusammen, als wäre er durch eine unsichtbare Kraft dorthin geschleudert worden.
Camon verstummte, und Kelsier sah sich in dem Raum um. »Ihr anderen wisst, wer ich bin?« Viele Bandenmitglieder nickten.
»Gut. Ich bin in eure Höhle gekommen, weil ihr mir einen großen Gefallen schuldet, Freunde.«
Im Raum war nichts anderes mehr als das Stöhnen Camons zu hören. Schließlich sagte einer der Diebe: »Ist das ... wirklich so, Meister Kelsier?«
»Allerdings. Meister Docksohn und ich haben euch soeben das Leben gerettet. Euer ziemlich unfähiger Anführer hat vor etwa einer Stunde das Amt für Finanzwesen verlassen und ist unmittelbar zu eurem Zufluchtsort zurückgekehrt. Zwei Späher des Ministeriums und ein hochrangiger Prälan sind ihm gefolgt ... und ein einzelner Stahlinquisitor.«
Niemand sagte ein Wort.
O Herr ...
dachte Vin. Sie hatte Recht gehabt; sie war nur nicht schnell genug gewesen. Wenn da draußen ein Inquisitor war ...
»Ich habe mich um den Inquisitor gekümmert«, meinte Kelsier. Er machte eine bedeutungsschwere Pause. Welcher Mann konnte leichthin von sich behaupten, er habe sich um einen Inquisitor »gekümmert«? Den Gerüchten zufolge waren diese Geschöpfe unsterblich; sie vermochten einem Menschen bis in die Seele zu blicken und waren unvergleichliche Krieger.
»Ich verlange eine Bezahlung für meine Dienste«, sagte Kelsier.
Diesmal stand Camon nicht mehr auf. Er war schwer zu Boden gestürzt und offensichtlich verwirrt. Im
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