Kinder Des Nebels
angegriffen.«
Vin nickte. Die Zerstörung der Festung war schon seit einiger Zeit erwartet worden. Während der vergangenen Woche hatte sie ein halbes Dutzend Überfälle von verschiedenen Häusern erdulden müssen. Da sich die Verbündeten zurückgezogen hatten und die Finanzen des Hauses zusammengebrochen waren, war dessen Untergang nur noch eine Frage der Zeit gewesen.
Seltsamerweise griff keines der Häuser bei Tag an. Im Sonnenschein redete man nicht über den Krieg; es war, als wollte die Aristokratie den Obersten Herrscher, dessen Regierungsgewalt keineswegs angezweifelt wurde, nicht dadurch verärgern, dass sie in aller hellen Öffentlichkeit Krieg führte. So fanden alle Kampfhandlungen nachts und unter dem Deckmantel des Nebels statt.
»Hattewoll gewollt«, sagte Spuki.
Vin schwieg, dann sagte sie: »Äh, Spuki, könntest du vielleicht ... normal sprechen?«
Spuki nickte in Richtung einer fernen, dunklen Gebäudemasse. »De Oberste Herrscher. Als obber den Kampf gewollt hätt.«
Vin nickte.
Kelsier hat es vorausgesehen. Weder im Ministerium noch im Palast gab es einen Aufschrei über den Krieg der Häuser, und die Garnison braucht verdächtig lange für ihren Rückweg nach Luthadel. Der Oberste Herrscher hat den Krieg der Häuser vorhergesehen und will ihm freien Lauf lassen. Wie ein Buschfeuer, das ein Feld verwüstet und gleichzeitig wieder fruchtbar macht.
Doch dieses Mal war es anders, denn sobald das eine Feuer erstarb, würde ein neues entzündet werden: durch Kelsiers Angriff auf die Stadt.
Vorausgesetzt, Marsch findet einen Weg, die Stahlinquisitoren aufzuhalten. Vorausgesetzt, es gelingt uns, den Palast einzunehmen. Und natürlich vorausgesetzt, Kelsier wird mit dem Obersten Herrscher fertig ...
Vin schüttelte den Kopf. Sie wollte Kelsiers Fähigkeiten nicht anzweifeln, aber sie konnte sich nicht vorstellen, dass ihnen all das gelingen sollte. Die Garnison war noch nicht zurückgekehrt, doch den Berichten zufolge befand sie sich schon in der Nähe der Stadt und benötigte vielleicht noch ein oder zwei Wochen, um sie zu erreichen. Einige Adelshäuser waren zusammengebrochen, allerdings herrschte nicht das allgemeine Chaos, das Kelsier heraufbeschwören wollte. Das Letzte Reich war angeschlagen, aber Vin bezweifelte, dass es zerbrechen würde.
Doch vielleicht ging es gar nicht darum. Der Bande war es erstaunlicherweise gelungen, einen Krieg der Häuser anzuzetteln; drei Große Häuser existierten bereits nicht mehr, und der Rest war ernstlich geschwächt. Es würde Jahrzehnte dauern, bis sich der Adel von seinen Streitereien erholt hatte.
Wir haben verblüffend gute Arbeit geleistet,
entschied Vin.
Selbst wenn wir den Palast nicht angreifen - oder wenn ein solcher Angriff fehlschlagen sollte ~, haben wir eine Menge erreicht.
Durch Marschs Erkenntnisse über das Ministerium und Sazeds Übersetzung des Tagebuchs erhielt die Rebellion neue und wertvolle Informationen für zukünftigen Widerstand. Das war zwar nicht das, worauf Kelsier gehofft hatte, denn es war kein vollständiger Sturz des Letzten Reiches, aber es war doch ein großer Sieg, der für die Skaa viele Jahre hindurch eine Quelle des Mutes und der Hoffnung darstellen würde.
Und überrascht stellte Vin fest, dass sie stolz darauf war, daran mitgewirkt zu haben. Vielleicht würde sie irgendwann in der Zukunft bei der Anzettelung einer richtigen Rebellion helfen können - an einem Ort, an dem die Skaa nicht ganz so niedergeschlagen waren wie hier.
Falls es einen solchen Ort überhaupt gibt ...
Allmählich begriff Vin, dass es nicht nur Luthadel und dessen Besänftigungsstationen waren, welche die Skaa so unterwürfig machten. Es war einfach
alles:
die Obligatoren, die andauernde Arbeit auf den Feldern und in den Mühlen, die Gemütsverfassung nach tausend Jahren Unterdrückung. Es gab einen Grund dafür, dass die Skaa-Rebellionen immer so zaghaft geführt wurden. Die Leute wussten - oder sie glaubten zu wissen -, dass man gegen das Letzte Reich nicht ankämpfen konnte.
Selbst Vin, die sich als »befreite« Diebin ansah, war ursprünglich derselben Auffassung gewesen. Es hatte Kelsiers verrückten, völlig übertriebenen Planes bedurft, um sie vom Gegenteil zu überzeugen. Vielleicht hatte er der Bande deshalb so hohe Ziele gesetzt. Nur angesichts einer solchen Herausforderung hatten sie überhaupt begreifen können, dass Widerstand möglich war.
Spuki warf ihr einen raschen Blick zu. Ihre Gegenwart war ihm noch immer
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