Kinder Des Nebels
drückte sie auf, während er fortfuhr: »Hoffentlich kommt die Garnison nicht zu schnell zurück. Der Schaden ist zwar schon angerichtet, aber ich sähe es gern, wenn der Krieg noch eine Weile weitergeh ...«
Er erstarrte in der Tür und versperrte Vin die Sicht.
Sie fachte sofort ihr Weißblech an, kauerte sich zusammen und lauschte auf Angreifer. Doch es waren keine da. Nur Stille.
»Nein ...«, flüsterte Kelsier.
Dann sah Vin die rote Flüssigkeit, die um Kelsiers Stiefel tröpfelte. Sie bildete eine kleine Lache und floss dann die erste Stufe hinunter.
O Oberster Herrscher ...
Kelsier taumelte in den Raum. Vin folgte ihm. Sie wusste, welcher Anblick sich ihr bieten würde. Der Leichnam lag ungefähr in der Mitte des Zimmers. Er war gehäutet und gevierteilt worden, und der Kopf war völlig zerschmettert. Kaum erkannte man, dass es sich um einen Menschen handelte. Die Wände waren rot bestäubt.
Hatte ein einziger Körper tatsächlich so viel Blut in sich?
Es sah so ähnlich aus wie in Camons Unterschlupf - doch hier gab es nur ein einzelnes Opfer.
»Ein Inquisitor«, flüsterte Vin.
Kelsier achtete nicht auf das Blut. Er fiel neben Marschs Leiche auf die Knie und hob die Hand, als wolle er den gehäuteten Körper berühren, doch dann erstarrte er vor Verblüffung.
»Kelsier«, drängte Vin. »Das ist erst vor kurzem passiert. Der Inquisitor könnte noch in der Nähe sein.« Er regte sich nicht. »Kelsier!«, zischte Vin.
Er fuhr zusammen und drehte sich um. Ihre Blicke trafen sich, und er kam wieder zu sich. Rasch stand er auf.
»Das Fenster«, sagte Vin und eilte quer durch den Raum. Sie hielt jedoch inne, als sie etwas auf einem kleinen Schreibtisch vor der Wand bemerkte. Es war ein hölzernes Tischbein, das halb unter einem weißen Blatt Papier verborgen lag. Vin ergriff es, als Kelsier das Fenster erreicht hatte.
Er drehte sich um, warf einen letzten Blick in das Zimmer und sprang hinaus in die Nacht.
Lebewohl, Marsch,
dachte Vin traurig und folgte Kelsier.
*
»Ich glaube, die Inquisitoren haben mich im Verdacht«, las Docksohn. Das Blatt Papier, das im Innern des Tischbeins gesteckt hatte, war sauber und weiß, während an Kelsiers Knien und dem Saum von Vins Mantel Blut klebte.
An Keulers Küchentisch las Docksohn weiter: »Sie stellen mir zu viele Fragen, und ich weiß, dass sie mindestens eine Nachricht an den korrupten Obligator geschickt haben, der mich ausgebildet hat. Ich habe versucht, die Geheimnisse in Erfahrung zu bringen, die die Rebellion schon immer wissen wollte. Wie rekrutiert das Ministerium die Nebelgeborenen, damit sie Inquisitoren werden? Warum sind die Inquisitoren mächtiger als gewöhnliche Allomanten? Wo liegen ihre Schwächen, falls sie überhaupt welche haben?
Leider habe ich fast gar nichts über die Inquisitoren herausgefunden, auch wenn mich die Intrigen innerhalb der gewöhnlichen Mitglieder des Ministeriums noch immer verblüffen. Es scheint so, dass den normalen Obligatoren die Welt da draußen völlig gleichgültig ist. Ihnen geht es nur um das Ansehen, das sie erwerben, wenn sie entweder sehr gerissen oder sehr erfolgreich beim Umsetzen der Anordnungen des Obersten Herrschers sind.
Die Inquisitoren hingegen sind anders. Sie sind dem Obersten Herrscher viel treuer ergeben als die gewöhnlichen Obligatoren - und das ist vermutlich der Grund für die Zwietracht unter den beiden Gruppen.
Dennoch habe ich den Eindruck, dass ich kurz vor dem Ziel bin. Sie
haben
ein Geheimnis, Kelsier. Eine Schwachstelle. Dessen bin ich mir sicher. Die anderen Obligatoren unterhalten sich flüsternd darüber, auch wenn keiner von ihnen diese Schwachstelle kennt.
Ich fürchte, ich habe zu viel herumgeschnüffelt. Die Inquisitoren überwachen mich, beobachten mich, fragen nach mir. Deshalb habe ich diese Botschaft geschrieben. Vielleicht ist meine Vorsicht unangebracht.
Vielleicht auch nicht.«
Docksohn hob den Blick. »Das ist alles.«
Kelsier stand am anderen Ende der Küche und lehnte gegen den Schrank, wie er es immer tat. Aber diesmal war nichts Leichtes an seiner Haltung. Er stand mit verschränkten Armen und leicht geneigtem Kopf da. Seine ungläubige Trauer schien verschwunden und durch eine andere Empfindung ersetzt worden zu sein - eine, die Vin schon einige Male dunkel hinter seinen Augen lodern gesehen hatte. Für gewöhnlich dann, wenn er über den Adel redete.
Unwillkürlich erzitterte sie. Plötzlich wurde ihr seine Kleidung deutlich bewusst: der dunkelgraue
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