Kinder des Wassermanns
alten Zeiten stammend. Festgemacht war er mit einem Lederkabel an dem, was vom Vordersteven noch übrig war. Jonas hatte sich zurückgezogen, als Steinkil verkrüppelt wurde. Die anderen beiden duckten sich hinter ihm. Haakon taumelte nach achtern. Das zahngespickte Maul gähnte weit. Er wuchtete den Anker hoch und ließ ihn fallen. Eine Flunke traf das rechte Auge und blieb in der Augenhöhle stecken.
Haakon wurde von den Kiefern gepackt. Schon zerfetzt, riß er sich los. »Männer, schwimmt!« rief er. »Tauno, töte ihn ...« Seine Stimme brach.
Der Sohn des Wassermanns hatte neue Kraft gewonnen und schoß wie ein Pfeil vorwärts. Ohne auf die Klauen zu achten, stieß er mit dem Messer zu. Aus dem Augenwinkel sah er, daß Haakons Männer in die Bucht zurückschwammen. Der Tupilak verfolgte sie nicht. Tauno verletzte ihn zu schwer.
Das Ungeheuer tauchte, als Tauno es tat, und versuchte, ihn zu ergreifen. Aber er mußte ein Grönlandboot mit sich schleppen und konnte sich kaum besser bewegen, als wenn das Meer ringsum gefroren gewesen wäre.
Taunos Messer bissen. Jedes Stück, das er losschnitt, kehrte in das Reich des Todes zurück, aus dem der Angakok es heraufbeschworen hatte.
Schließlich trieb eine leere Hülle auf dem Wasser, und ein Haikopf sank nach unten in die Finsternis. Die Wellen reinigten sich selbst. Als Tauno, jetzt Luft atmend, das zweite Boot erreichte, fühlte er den Wind auf seiner Stirn wie einen herben Segen.
Obwohl das Fahrzeug wieder in einen benutzbaren Zustand versetzt worden war, konnte er nicht an Bord gehen. Für einen so gesplitterten und gesprungenen Rumpf war es mit neun Männern schon überladen – neun, denn mit Hilfe von treibenden Planken waren sowohl Haakon als auch Steinkil hinübergebracht worden. Tauno hielt sich am Rand fest. Die noch Unverletzten starrten ihn benommen an, zu nichts anderem mehr fähig als Entsetzen. Steinkils verbundener Stumpf sah aus, als werde der Mann am Leben bleiben. Auf Haakon traf das nicht zu. Vom Brustbein bis zum Schritt war er aufgerissen. Sein langer Körper lag in Blut und Eingeweiden zwischen zwei Ruderbänken.
Doch er hielt sich mit aller Willenskraft bei Bewußtsein. Seine und Taunos Augen trafen sich, verdämmerndes Blau mit heißem Bernstein. Der Liri-Prinz konnte eben noch ein heiseres Flüstern verstehen: »Meermann, ich danke dir ... ehre meinen Eid, Jonas ... Meermann, vergib mir meine Lüge über dein Volk.«
»Du mußtest an das deine denken«, antwortete Tauno tröstend.
»Und meine Tochter ... Sie wird mit dir reden ... Ich habe kein Recht, darum zu bitten ... aber wirst du sie suchen und ...« Haakon rang nach Atem. »Bitte sie – aber wenn sie nicht will, sag ihr, daß ... ich meine Bengta niemals verstoßen habe ... und im Fegefeuer werde Ich für sie beten ...«
»Ja«, sagte Tauno, »Eyjan und ich werden das tun.«
Haakon lächelte. »Vielleicht habt ihr doch Seelen, ihr Seevolk.« Bald danach starb er.
10
Feensinne fanden Spuren, die von Sterblichen nie entdeckt worden wären. Tauno und Eyjan brauchten nur zwei Tage – doch sie reisten auch während des größten Teils der langen Spätherbstnächte – , um das neue Lager der Inuit zu entdecken.
Es lag in einem kleinen Tal, das sich an eine Bucht mit hohem Ufer schmiegte. Von der Wiese wand sich ein Pfad zum schimmernden Wasser hinunter. Eine frische Quelle sprudelte aus einem Rasen, der trocken geworden war, aber sich unter den Füßen immer noch weich anfühlte. Zwergbirken und -weiden standen verstreut und hielten ihre letzten paar gelben Blätter fest. Überall erhoben sich Berge, graublau, wo kein Schnee lag. Durch eine Kluft im Osten blitzte das geheimnisvolle Grün des Inlandeises. Eine von einem Dunstkreis umgebene Sonne sandte vom Westen her Strahlen durch die funkelnde, atemlose, boreale Luft.
Hunde bellten, als die beiden hohen Gestalten in ihren Fischhauthemden näher kamen, fingen dann den Geruch auf und verstummten; sie schlichen sich aber nicht weg wie die Hunde der weißen Männer. Jäger kamen heraus mit Harpunen, Messern und Bogen; ihre Haltung war nicht prahlerisch. Frauen setzten ihre Arbeit fort und forderten die Kinder auf, dicht bei ihnen zu bleiben; niemand äußerte Furcht oder Haß.
Alle schienen sich zu Hause zu fühlen und sich des Überflusses zu erfreuen, den eine gute Jagd eingetragen hatte. Fleisch von Seehund und Eisbär kochte über Feuern und sandte würzige Düfte aus. Weiteres Fleisch war der Sicherheit wegen auf
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