Kinder
Seite
fallen.
Zwischen den Sitzreihen hindurch konnte sie Rico noch an der
Haltestelle stehen sehen. Enttäuscht sah er dem Bus nach, ehe er sich umdrehte
und sich auf sein altes Moped schwang.
Von beiden unbemerkt hatte Rosemarie Moeller hinter einem
ausladenden Busch gestanden und das Zusammentreffen von Sarah und Rico
beobachtet. Als Bus und Moped weg waren, schlenderte sie zurück in Richtung
Eisdiele und murmelte dabei einige Sätze in ein kleines Diktiergerät, das sie
danach in ihrer Manteltasche verschwinden ließ.
Viele kleine Details ergaben allmählich ein erfreulich genaues
Gesamtbild, fand Rosemarie Moeller, und ein Grinsen huschte über ihr hageres
Gesicht.
Rainer Pietsch war früher nach Hause gekommen, um seiner
Frau den Rücken freizuhalten. Sie hatte für den Abend einen Catering-Auftrag angenommen,
den sie auf keinen Fall verderben durfte: Karin Knaup-Clement weihte ihr neues
Büro direkt an der Wilhelmstraße ein – hohe Räume, hohe Miete, und alles
todschick renoviert.
Für hundertzwanzig Leute war ein Buffet bestellt: Bruschette und
Olivenspießchen, getrüffelte Salami, Breisgauer Ziegenbrie, Schwarzwälder
Schinken und Parmigiano, Rucolasalat und Tomatenschiffchen – Annette Pietsch
hatte sich eine Mischung aus landestypischen und mediterranen Kleinigkeiten
einfallen lassen. Und als sie ihrer Kundin riet, sich dazu vom Fischhändler um
die Ecke frische Meeresfrüchte anrichten zu lassen, hatte sie den Auftrag in
der Tasche. Den ganzen Tag über war Annette Pietsch schon für die abendliche
Veranstaltung auf den Beinen, hatte Gemüse und Salat ausgesucht, Oliven
aufgespießt und Rucola geputzt. Seit dem Nachmittag hantierte sie mit drei
freien Mitarbeiterinnen in der Versuchsküche eines befreundeten
Restauranttesters, mischte Dressings und bereitete den Aufstrich für die
Bruschette vor.
Michael und Lukas waren leidlich pünktlich für ein eiliges
Mittagessen nach Hause gekommen, das ihnen ihre Mutter zum Aufwärmen
vorbereitet hatte. Sarah kam erst später, aber alle drei kümmerten sich darum,
dass die Küche hinterher wieder aufgeräumt und die Spülmaschine gefüllt und
gestartet war. Sarah rief sogar auf dem Handy ihrer Mutter an und fragte, ob
sie bei den Vorbereitungen helfen könne – aber Annette Pietsch war es lieber,
mit ihrem eingespielten Team zu wirbeln.
Rainer Pietsch war überrascht, als er die Küche bei seiner Ankunft
ordentlich und sauber vorfand – und die drei Kinder in ihren Zimmern,
konzentriert mit Hausaufgaben oder dem Lernen auf die nächste Klassenarbeit
beschäftigt.
Etwas Entscheidendes hatte sich in diesem Schuljahr verändert, und
er war sich längst sicher, dass das vor allem mit dem Lehrerehepaar Moeller
zusammenhing. Auch wenn er die beiden neuen Lehrer nicht sympathisch fand und
große Bedenken hatte, was ihren Umgang mit den jeweiligen Schülern betraf:
Insgesamt schien der Unterricht der beiden skurrilen Neulinge seinen Kindern
gutzutun.
Christine Werkmann musste sich kurz an Kevins Schrank
abstützen, als sie aufstand. Sie hatte wohl zu lange zusammengekauert auf der
Bettkante ihres Sohnes gesessen, nun waren ihre Beine taub und drohten nachzugeben.
Kevin lag mit dem Gesicht zur Wand, atmete gleichmäßig und schien zu
schlafen. Endlich, dachte Christine Werkmann und sah, als sie zur Küche
hinübergehumpelt war, auf die Wanduhr: Geschlagene eineinhalb Stunden hatte es
sie gekostet, bis Kevin wieder ruhiger geworden war.
Aus der Thermoskanne schenkte sie sich Tee nach, der inzwischen nur
noch lauwarm war. Dann setzte sie sich an den Küchentisch und begrub ihr
Gesicht in ihren Händen. Nahm das denn nie ein Ende?
Schon im vergangenen Jahr war Kevin gemobbt worden, als dicklicher,
oft stotternder und eher mäßiger Schüler war er als Opfer für seine Mitschüler
wie gemacht, das war ihr klar. Seit diese beiden neuen Lehrer am Gymnasium
unterrichteten, schien sich für Kevin die Situation gebessert zu haben – obwohl
Christine Werkmann das nach dem fürchterlichen Elternabend nur ungern vor sich
selbst zugeben mochte. Aber immerhin hatten die anderen ihren Sohn seither in
Ruhe gelassen, warum auch immer.
Heute aber war es schlimmer gewesen als zuvor, auch das Stottern –
und dabei war Kevin selbst nicht einmal etwas Konkretes zugestoßen.
Lukas war heute Nachmittag nicht zum Spielen gekommen, und als sie
von der Arbeit nach Hause kam, saß Kevin vor der Spielekonsole und war ganz
abgetaucht in seine eigene Welt. Sie hatte das Abendessen
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