Kinder
wollte, drückte Kevin ihm wortlos einen
Zwanzig-Euro-Schein in die Hand und nickte zu Marius hinüber. Erst sah ihn
Lukas verständnislos an, dann dämmerte ihm, dass Kevin von seinem speziellen
Problem wusste.
»Das musst du nicht«, protestierte er zwar lahm, wusste im Moment
aber wirklich nicht, woher er noch Geld nehmen sollte, um sich Marius vom Hals
zu halten. Die Scheine, die er aus dem Umschlag daheim auf dem Telefontischchen
genommen hatte, waren inzwischen aufgebraucht – er wunderte sich, dass das
seinen Eltern bisher noch gar nicht aufgefallen war,
»D-du nimmst jetzt das G…eld«, sagte Kevin, und sein zunehmendes
Stottern zeigte Lukas, dass die Sache auch ihn nicht kalt ließ, »D-du g…ibst
es d-diesen Typen, und heute N-nachmittag überlegen w…ir uns, was wir unternehmen,
ja? So k-kann es ja nicht w…eitergehen.«
»Aber ich …«
»Ruhe jetzt«, sagte Kevin und grinste breit. »W…weißt du: Ich habe
n-nicht so viele Freunde, dass ich mir eben mal einen k-kaputtmachen lasse.«
Das schlechte Gewissen durchzuckte Lukas kurz, denn eigentlich hatte
er die Freundschaft zu Kevin anfangs ja nur gespielt, um Marius und seinen
Jungs zu entkommen – aber inzwischen konnte er den pummeligen Außenseiter mit
seinem Sprachproblem wirklich gut leiden. Und umgekehrt war es wohl ähnlich, jedenfalls
stotterte Kevin im Gespräch mit ihm normalerweise viel weniger als sonst in der
Schule.
Also trottete er hinüber zu Marius, Hype, Claas und Benjamin. Er
steckte Marius wie die bisherigen Male den Geldschein unter der Hand zu und
kehrte dann wieder zu Kevin zurück.
»Ob er sich damals auch so ein Gewäsch hat anhören
müssen?«, fragte Rosemarie Moeller mit bebender Stimme, und sie schwang eines
der Bücher von John Locke wie eine Fackel über ihrem Kopf. Dann stellte sie den
Band zurück ins Regal und ließ sich müde neben ihrem Mann auf das Sofa sinken.
Leise klassische Musik erfüllte den Raum, von draußen drangen
Straßengeräusche durch die schlecht gedämmten Fenster herein. Franz Moeller
reichte ihr ein halb gefülltes Glas, die beiden stießen miteinander an und
nippten am dunklen Rotwein.
»Nimm dieses Intermezzo doch nicht so ernst«, sagte er und stellte
sein Glas wieder ab. »Es ist doch alles auf dem richtigen Gleis.«
»Meinst du, es reicht schon?«
»Aber sicher reicht es. Viele der Kinder sind mit Feuereifer bei der
Sache, und wenn wir uns nun etwas mehr zurückhalten, machen wir nicht nur genau
das, was Wehling und die Eltern von uns wollen – sondern wir lassen auch die
Schüler selbst von der Leine.«
»Und du bist sicher, dass sie schon so weit sind?«
»Ja, bin ich. Das hat er mir am Wochenende doch auch geglaubt, du
hast es selbst miterlebt.«
Sie nickte, wirkte aber noch immer skeptisch.
»Und er«, fuhr Franz Moeller fort, »hat nun wirklich Erfahrung mit
unseren Methoden, einige hat er ja selbst entwickelt.«
»Aber unser Gespräch nach seinem Vortrag hat mir mehr zugesetzt als
heute diese lächerliche Unterredung mit diesem windelweichen Rektor.«
»Da bleibt aber nichts hängen. Der Vorsitzende weiß, was er an uns
hat – er kennt unsere bisherigen Erfolge.«
»Das schon, aber er weiß eben auch alles andere. Und da scheint ihm
nicht alles zu gefallen …«
»Du darfst nicht vergessen, dass er ein alter Mann ist – er wird,
wie es scheint, milder mit den Jahren.«
»Zu mild für meinen Geschmack«, sagte Rosemarie Moeller und nahm
noch einen Schluck. »Und diese Milde fand ich schon immer gefährlich für unsere
Ziele. Da fehlt manchmal nicht mehr viel und wir begeben uns in dasselbe
Fahrwasser, das wir den anderen vorwerfen.«
»Wir müssen nicht alles eins zu eins so umsetzen, wie er das gerne
hätte. Wenn wir die Schrauben noch ein wenig anziehen, braucht er es ja nicht
unbedingt zu erfahren.«
»Bevor wir unseren heutigen Unterricht beginnen, würde ich
gerne noch etwas in eigener Sache loswerden.«
Rosemarie Moeller sah in die Runde, alle Gesichter waren auf sie
gerichtet, vom dicken Kevin bis hin zum obercoolen Marius.
»Es gab Beschwerden von Eltern, die nicht mit unserem Unterricht
einverstanden sind. Mit uns direkt hat zwar niemand gesprochen, aber dem Rektor
wurde die Kritik vorgetragen – und der hat danach mit uns geredet.« Sie machte
eine kurze Pause.
In der zweiten Reihe ging eine Mädchenhand nach oben.
»Ja, bitte?«, erteilte Rosemarie Moeller der aufgeschossenen Soraya
das Wort. Das Mädchen war zu Beginn des Schuljahres eher
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