Kinder
verdrängen, während Michael in seinem Ranzen herumgrub und ihr
schließlich ein Papiertaschentuch hinhielt.
Sarah nahm es, tupfte sich hastig die Augenwinkel und sah Michael
dann mit einem traurigen Lächeln an. »Bist schon ganz in Ordnung, Kleiner!«
»Kleiner?«, echote Michael mit gespielter Empörung. »Du bist wohl
lebensmüde!«
Kevin kam heulend vor dem Haus an, wischte sich aber vor
dem Hineingehen noch die Augen und die Nase mit dem Ärmel trocken. Er atmete
ein paar Mal tief durch, dann ging er hinein. An der zerrissenen Jacke konnte
er ohnehin nichts ändern.
Seine Mutter war noch nicht von der Arbeit da, aber die Jacke würde
sie auch heute Abend sehen – und Kevin hatte auch keine Lust, ihr wegen der
Keilerei Theater vorzuspielen. Er hatte im Fallen immerhin noch einen Ärmel von
Hypes Lieblingsjacke abgerissen – dafür hatte er die Fußtritte, mit denen sich
Hype an ihm revanchiert hatte, gerne eingesteckt.
Tobias und Marc hatten den Nachmittag miteinander
verbracht, aber es war ihnen nicht gelungen, noch einmal unbemerkt an den prall
gefüllten Arzneischrank von Marcs Mutter zu kommen.
»Egal«, sagte Tobias schließlich und klopfte seinem Freund tröstend
auf die Schulter. »Dann lassen wir uns eben etwas anderes einfallen. Noch ein
Schüler mit Vergiftungserscheinungen wäre sowieso zu auffällig gewesen, nachdem
sie wegen Ronnie so einen Aufstand gemacht haben.«
Das Abendbrot nahm Familie Pietsch ohne Lukas ein, der
angerufen hatte, dass er länger bei seinem Freund Kevin bleiben wolle. Es war
ruhig am Tisch. Sarah und Michael waren nicht in der Stimmung, von ihrem Tag zu
erzählen – und den Eltern fiel es kaum auf, weil sie ganz in Gedanken versunken
waren.
Als Lukas später nach Hause kam, schaffte er es zu seiner eigenen
Überraschung, an seinen Eltern vorbei ins Zimmer zu kommen, ohne dass ihnen das
Loch in seiner Jeans und die verkrusteten Schrammen an seinen Armen aufgefallen
wäre. Seine Mutter dachte sich die Zutaten für ein Buffet aus, der Vater
brütete über einem Schreiben seines Arbeitgebers, und Michael und Sarah waren
bereits auf ihre Zimmer gegangen, um noch ein wenig zu lernen. Lukas schnappte
sich in der Küche ein Brötchen und ein Stück Fleischwurst, füllte sich ein Glas
mit Leitungswasser und huschte in sein Zimmer, wo er schnell in den Schlafanzug
schlüpfte, nebenbei aß und trank und schließlich mit dem Deutschbuch im Bett
verschwand.
Nachdem er die für den kommenden Tag angekündigten Lektionen
überflogen und sich ein paar Gedanken über den Aufbau einer Sachbeschreibung
gemacht hatte, packte er seinen Ranzen für den morgigen Schultag und kroch
zurück ins Bett.
Im dunklen Zimmer spürte er seine blauen Flecke deutlicher als
zuvor, und vor seinem geistigen Auge spielte sich immer wieder die Szene in der
Tiefgaragen-Einfahrt ab. Der zu Boden gehende Kevin, sein eigenes Blut, und die
vier anderen, die völlig hemmungslos auf sie einschlugen und eintraten. Als er
es nicht mehr aushielt, nahm er sich ein Buch und begann zu lesen. Später kam
sein Vater ins Zimmer, um ihm eine gute Nacht zu wünschen – doch Lukas schlief
schon, und Rainer Pietsch zog seinem Sohn das Buch aus den verkrampften Händen
und zog ihm die Decke bis unters Kinn.
Nachdem Christine Werkmann an diesem Abend erneut völlig
erschöpft aus dem Kinderzimmer ging, stand ihr Entschluss fest: Sie würde die
Elternsprecherin der 6d anrufen und ihr den neuesten Vorfall melden.
Nach dem zweiten Elternstammtisch genoss Christine Werkmann
inzwischen das seltene Gefühl, dass alle Eltern an einem Strang zogen – und
dass nun auch Kevins Schicksal endlich alle interessierte. Dass auch hinter den
Schlägen, die Kevin heute hatte einstecken müssen, letztlich das von den
Moellers geschaffene Klima in der Klasse steckte, stand für sie außer Frage.
Und Karin Knaup-Clement, die Elternvertreterin, würde den neuen Vorfall gern
zum Anlass nehmen, dem Rektor noch weiter einzuheizen.
Sie sah auf die Uhr: kurz vor zehn. Nein, heute Abend sollte sie
besser niemanden mehr ans Telefon holen. Und morgen würde sie erst spät von der
Arbeit kommen. Aber übermorgen würde sie anrufen, und dann würden sich die
Eltern der 6d endlich gemeinsam daranmachen, diesen seltsamen Lehrern das
Handwerk zu legen.
Franz und Rosemarie Moeller gingen in ihrem Arbeitszimmer
noch einmal die Listen durch. Schülernamen waren nach Klassen sortiert. Hinter
einigen Namen waren Häkchen eingezeichnet, andere waren
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