Kinder
denken. Nicht an den Wein,
nicht an ihren Exmann, nicht an ihren toten Sohn. Nicht an die Moellers.
Dann öffnete sie die Augen wieder und erschrak: Unten stand Franz
Moeller und sah zu ihr nach oben.
Und wenn sie sich das alles nur einbildete? Wenn ihr nur ihre Nerven
einen Streich spielten? Wenn dort unten gar niemand … Sie schloss wieder die
Augen, zählte in Gedanken bis zwanzig, dann öffnete sie sie wieder. Franz Moeller
stand immer noch an derselben Stelle. Wut kam in ihr auf, und plötzlich
schleuderte sie das noch halb gefüllte Weinglas auf ihn – doch das Glas flog
nicht weit genug und zerschellte auf der Mitte der Straße, wo es eine kleine
rote Pfütze hinterließ.
Gegenüber ging ein Licht an, ein Fenster schwang auf. Christine
Werkmann sank weinend zu Boden und blieb lange zwischen ihrem Bett und dem
geöffneten Fenster hocken.
Rainer Pietsch konnte es nicht fassen. Nach dem heutigen
Arbeitstag hatte er seiner Frau erzählt, er habe noch eine Besprechung – er war
aber in Wirklichkeit das erste Mal seit Jahren in eine Sportbar gegangen, um
sich bei ein, zwei Gläsern Bier irgendein Spiel anzusehen. Es wurde Baseball
gezeigt, und wie früher schon verstand er nicht ganz, worum es letztlich ging.
Aber das Bier war frisch gezapft, der Fernseher schön laut gestellt, und in der
Bar war niemand, der ihn kannte und der ihn nach Job oder Familie fragen
konnte.
Er trank langsam und stieg nach dem zweiten Bier auf Cola um,
schaute noch ein wenig Baseball, verlor dann aber die Lust und fuhr gegen elf
nach Hause. Als er unterwegs an einer Ampel warten musste, fiel sein Blick auf
das Straßenschild rechts oberhalb von ihm – es war die Straße, in der Christine
Werkmann wohnte.
Kurz dachte er nach, dann entschloss er sich, auf gut Glück bei
ihrer Wohnung vorbeizufahren. Sie hatte so überzeugend davon erzählt, wie die
Moellers sich regelmäßig mit Blick auf ihr Fenster postierten, dass er sich
nicht sicher war, ob sie sich das alles wirklich nur einbildete. Und wenn doch,
konnte er ihr mit gezielten Fragen zum heutigen Abend vielleicht eine Falle
stellen – und sich die Bestätigung holen, dass alles nur ihrer überreizten
Phantasie entsprang.
Doch als Rainer Pietsch langsam auf das Haus von Christine Werkmann
zufuhr, sah er auf dem gegenüberliegenden Gehweg tatsächlich einen Mann stehen,
den er nur zu gut kannte: groß, hager, langer Mantel. Unwillkürlich ließ sich
Rainer Pietsch tiefer in den Fahrersitz sinken, aber Franz Moeller sah
unverwandt nach oben zu Christine Werkmanns Wohnung und erkannte den Fahrer des
langsam vorübergleitenden Wagens nicht.
Sarah wollte gerade den Weg zum Bus einschlagen, als sie
Michael unter dem großen Baum im Schulhof stehen sah. Er stand dort mit den
beiden Jungs aus seiner Klasse, mit denen es zuletzt Ärger gegeben hatte:
Tobias und Marc. Michael wirkte, als würde er gleich auf die beiden losgehen,
aber Marc redet auf ihn ein, und er grinste dabei. Michael wurde wütender und
schubste Marc ein wenig. Tobias wandte sich ab und stellte sich seitlich hinter
Michael. Dann schubste Marc zurück, Michael taumelte leicht, ging zwei Schritte
zurück, stolperte über ein Bein von Tobias und schlug der Länge nach hin.
Sarah war inzwischen ein Stück auf die drei zugegangen, und als Marc
sie bemerkte, begann er sich plötzlich zu winden und hielt sich den Magen.
»Verdammt!«, jammerte er und beugte sich vornüber. »Du hast mich
voll erwischt, du Idiot!«
Michael rappelte sich wieder auf, Tobias hatte dessen ältere
Schwester nun auch kommen sehen.
»Gut, dass du kommst«, sagte er zu Sarah. »Dein Bruder tickt schon
wieder total aus – kannst du den nicht mal an die Leine nehmen?«
»Für mich sah das anders aus«, sagte Sarah, und sie bedachte
Michaels Mitschüler mit einem warnenden Blick. »Übertreibt eure Spielchen
nicht, ihr Zwerge!«
»Sag mal, Lukas«, begann Rainer Pietsch und beobachtete
seinen Sohn aufmerksam, »kommst du mit Frau Moeller inzwischen zurecht?«
Lukas dachte kurz nach, dann nickte er und stopfte sich noch ein
Stück Croissant in den Mund.
»Und die anderen in deiner Klasse?«
Lukas kaute und überlegte, dann zuckte er die Schultern und trank
einen Schluck Kakao. Rainer Pietsch wartete und sah seinen Sohn an.
»Ja, schon, nehme ich an«, sagte Lukas schließlich, als er bemerkte,
dass sein Vater sich auf langes Warten eingerichtet hatte.
»Was heißt ›nehme ich an‹?«
»Na, ich kann den anderen ja nicht in den Kopf
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