Kinderfrei
beließ sie es jedoch nicht bei dieser deprimierenden Schlussfolgerung, sondern ließ die Leserschaft nur wenige Monate später an ihrem Wissen zum »Black-out im Bett« teilhaben und machte Vorschläge, wie die »aussterbenden Deutschen Lust auf Kinder kriegen« könnten. 52
› Hinweis
Am 5. Januar 2004 sah uns der Spiegel auf dem »Weg in die Greisenrepublik«. Auf dem unsäglichen Titelbild war »Der letzte Deutsche« abgebildet, ein Baby, das eine überproportional große Hantel stemmte, auf der viele Menschen saßen. Und am 6. März 2006 schließlich war der Höhepunkt der Panikmache erreicht mit der Titelgeschichte »Jeder für sich. Wie der Kindermangel eine Gesellschaft von Egoisten schafft«. Abnehmende Geburtenraten, so die These dieser Spiegel – Titelgeschichte, führen zur Vereinzelung der Kinder unserer Gesellschaft, ohne Familie aber verlernt die Gesellschaft die Liebe. Damit war das Maß voll, denn finanzielle Belastungen können ausgeglichen, Sozialsysteme notfalls umgestaltet werden – doch wer will schon eine Gesellschaft ohne Liebe?
Auf der Seite www.single-generation.de wurde wiederholt darauf hingewiesen, dass das Ziel der Kampagne wohl vorrangig darin bestand, die Verabschiedung des Elterngelds durchzudrücken. Nicht zu Unrecht vermutlich, denn noch 2006 drohte uns nicht nur die vom Spiegel beschworene lieblose Gesellschaft aus Einzelkämpfern, sondern gar »Einwohnerkannibalismus«: Auf der Pressekonferenz des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung am 15. März 2006, auf der die Studie »Die demografische Lage der Nation« vorgestellt wurde, sagte der Bevölkerungswissenschaftler Reiner Klingholz, es werde ein Hauen und Stechen geben, einen regelrechten Einwohnerkannibalismus. Na, dann guten Appetit … Die Welt verfälschte zweimal hintereinander 53
› Hinweis
die vorläufigen Schätzungen des Statistischen Bundesamts zu den Geburtenzahlen 2005; sie nannte 676 000 statt der tatsächlich vom Statistischen Bundesamt angegebenen Zahl von 680 000 bis 690 000 und behauptete obendrein, dies sei mit einem Minus von über 4% gegenüber dem Vorjahr der gewaltigste Einbruch der letzten 15 Jahre 54
› Hinweis
– dabei hatte es bereits 2001 einen Rückgang der Geburtenzahlen von ca. 4,2% gegenüber 2000 gegeben. Die endgültigen Geburtenzahlen des Jahres 2005 betrugen übrigens 685 792 – 10 000 mehr als von Müller und Peter behauptet.
Und dann, urplötzlich, der Umschwung: 2007, nach der Einführung des Elterngelds, waren weder die Zahlen des Statistischen Bundesamts zu den Geburtenzahlen 2006 von Interesse, noch sorgte die Tatsache, dass auch im ersten Halbjahr 2007 der Rückgang der Geburtenzahlen angehalten hatte, für Aufregung. Stattdessen wurde nunmehr in die andere Richtung übertrieben und verfälscht. Unter der Überschrift »Baby-Boom in deutschen Städten« vermeldete Iris Marx am 17. Mai 2007 in der Welt , dass im ersten Quartal 2007 in deutschen Großstädten 21% mehr Babys geboren worden seien als im Vorjahr, und setzte dies mit einem generellen Anstieg der Geburtenzahlen in Deutschland gleich. Die Autorin behauptet ferner, dass seit den 1970er-Jahren die Geburtenzahl in Deutschland nicht mehr angestiegen sei, und suggeriert, das Elterngeld zweifellos sei der Anreiz für diese »Trendwende«. In Wahrheit jedoch sind die Geburtenzahlen in den Jahren 1990, 1996 und 1997 gestiegen, und der Baby-Boom in deutschen Großstädten wurde schon lange vor Einführung des Elterngelds verzeichnet – Berlin Prenzlauer Berg ist ein berühmt-berüchtigtes Beispiel dafür. Angesichts der medialen Deutungshoheit dürfen wir also vermutlich gespannt sein, wann welches politische Ziel das nächste Mal auf dem Rücken der Kinderfreien durchgesetzt werden soll.
Die Tatsache, dass Kinderfreie weitgehend unwidersprochen als Egoisten und Sozialschmarotzer verunglimpft werden konnten, zeigt, wie weitverbreitet in der Bevölkerung dieses Vorurteil ist. Kinderfreiheit ist per se ein verdächtiger Lebensstil. Dies betrifft besonders die Frauen, denn während das Verständnis von Männlichkeit noch nie auf die Funktion als Vater beschränkt war, sondern eine Vielzahl weiterer Rollen beinhaltete, bestand bis vor wenigen Jahrzehnten die wichtigste, ja die einzige Aufgabe der Frau in der Rolle der Mutter. Mutterschaft und Weiblichkeit waren untrennbar miteinander verflochten, und wir haben uns noch längst nicht vollständig von dieser Vorstellung befreit. Einem Mann kann man es noch eher
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