Kinderfrei
ermöglichen. Damit widerspricht sich diese Vorstellung selbst, denn ein Recht, das allein durch seine bloße Ausübung eingeschränkt wird, kann es per definitionem nicht geben. 106
› Hinweis
Lange Rede, kurzer Sinn: Weder das Recht auf Familiengründung aus Art. 16 der Menschenrechtserklärung und Art. 23 des ICCPR noch die Kairoer UN-Bevölkerungskonferenz, ob man sie nun als Völkergewohnheitsrecht interpretiert oder nicht, kann also als Recht, eine unbegrenzte Anzahl von Kindern zu haben, ausgelegt werden, sondern muss anders definiert werden.
Versuchen wir es so: Die Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen beschreibt in ihren Erläuterungen zu Art. 23 ICCPR das Recht auf Heirat und Familiengründung als das Recht, »sich fortzupflanzen und zusammenzuleben« 107
› Hinweis
. Dabei hat das Recht auf Fortpflanzung gegenüber anderen Menschenrechten eine entscheidende Besonderheit: Während sich etwa das Recht auf Meinungsfreiheit nicht dadurch verwirklichen ließe, dass jeder Mensch eine bestimmte Anzahl von Malen (z. B. einmal, fünf Mal oder 20 Mal) im Leben seine Meinung frei äußern kann und danach nie wieder, ist dem Menschenrecht auf Fortpflanzung grundsätzlich bereits Genüge getan, wenn jeder Mensch die Möglichkeit erhält, sich einmal fortzupflanzen. 108
› Hinweis
Das allein spricht schon dafür, das Recht auf Familiengründung äußerst eng auszulegen. Daran ändert sich auch nichts, wenn man berücksichtigt, dass es für die Identität vieler Menschen, dafür, wie sie sich selbst und ihren Platz in der Welt wahrnehmen und definieren, von zentraler Bedeutung ist, Nachwuchs zu haben. Denn auch diese Selbstverwirklichung wird durch den ersten Akt der Fortpflanzung verwirklicht und danach nur noch wiederholt. Wenn Ihnen das extrem erscheint, dann überlegen Sie, was Sie intuitiv als schlimmer empfinden würden: einen Menschen davon abzuhalten, überhaupt ein Kind zu bekommen, oder ihm ein zweites, drittes oder viertes Kind zu versagen?
Der von Dillard vorgeschlagene Interpretationsansatz geht daher von dem Gedanken aus, dass jeder Mensch das Recht haben sollte, seine Gene weiterzugeben und eine Familie zu gründen. Dementsprechend wird der Schutzbereich dieses Rechts ausgelegt: Grundsätzlich geschützt wäre das Recht, seine Gene weiterzugeben und/oder sich als Elternpaar numerisch zu ersetzen (also 1 oder 2 Kinder zu haben), sowie die damit zusammenhängenden zentralen Rechte wie etwa das Sorgerecht oder das Recht, in einem Haushalt zusammenzuleben. Alles, was über diesen eng definierten Schutzbereich hinausgeht, müsste gegen andere, konkurrierende Rechte sowie das Allgemeinwohl abgewogen werden und gegebenenfalls dahinter zurücktreten. Diese Vorgehensweise entspricht im Übrigen genau der Methode, wie sie bei anderen widerstreitenden Grundrechten praktiziert wird. So findet beispielsweise die Meinungsfreiheit dort ein Ende, wo das Persönlichkeitsrecht einer anderen Person verletzt wird.
Wenn man genau hinsieht, enthält nämlich auch der Wortlaut der Kairoer Bevölkerungskonferenz eine Einschränkung, die eine genauere Definition des Rechts auf Familiengründung ermöglicht. Paare und Individuen bestimmen die Anzahl ihrer Kinder zwar »frei«, aber eben auch »verantwortlich«. Der Begriff »verantwortlich« kann hier nur als limitierendes Merkmal verstanden werden. Das heißt, das Recht, die Anzahl der Kinder zu bestimmen, wird durch die entsprechende Pflicht eingeschränkt, dabei verantwortlich zu handeln, also stets auch die Auswirkungen ihrer Entscheidungen auf andere Rechte und Interessen zu berücksichtigen.
Welchen Anknüpfungspunkt man auch immer wählt – ein Recht des Menschen, sich selbst zu ersetzen, die Pflicht, verantwortlich zu handeln, oder ganz allgemein den Grundsatz, dass jedes Recht dort seine Grenzen findet, wo es andere Rechte berührt – eine präzisere Definition des Rechts auf Familiengründung wäre dringend erforderlich. Doch hier schlafen die gesetzgebenden Instanzen einen fatalen Dornröschenschlaf, der dazu geführt hat, dass einem substanzlosen, fälschlich angenommen Recht, dem Recht auf unbegrenzte Fortpflanzung, alle anderen, sehr wohl existierenden Rechte und Interessen rücksichtslos untergeordnet wurden.
Das hat nicht nur unsere heutige ökologische Krise mitverursacht, sondern zeitigt auch weitere Folgen für uns alle, die sich immer wieder in dicht besiedelten Gebieten und besonders in den Millionenstädten in aller Welt beobachten
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