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Kindermund (German Edition)

Kindermund (German Edition)

Titel: Kindermund (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pola Kinski
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vorwärtszubewegen. Eigentlich hasse ich Armbanduhren. Meine Großmutter hat sie mir geschenkt, und deshalb trage ich sie manchmal, obwohl ich sie mir am liebsten vom Arm reißen würde, auch heute, denn das Starren auf die Zeiger macht alles nur noch schlimmer. Der Lehrer wird von mir auf seine Umrisse reduziert, die an den Rändern zerfließen. Seine Stimme kommt von ganz weit her. Ein Fenster steht offen, Frühlingsluft weht herein. Sie lockt mich hinaus in die Wärme. Die Füße jucken in den Schuhen, auch sie wollen raus. Noch vier Minuten und sechsunddreißig Sekunden, dann ist Schulschluss. Dann werden Michaela und ich zum Eisessen gehen. Das ist fest vereinbart. Michaela ist meine beste Freundin, seit Mama Heinrich geheiratet hat und wir hierhergezogen sind. Wir sind unzertrennlich. Und wenn man uns an einem Tag aus irgendeinem Grund nicht zueinander lässt, schreiben wir uns Briefchen. Micha ist frech und lustig wie ich. Wir lachen über fast alles, und jede ist für die andere der Schrein für die tiefsten Geheimnisse: Welche Jungen wir süß finden und wer eine von uns angelächelt hat.
    Ich spüre, dass mich jemand beobachtet, drehe den Kopf und schaue in Michas feixendes Gesicht zwei Bänke weiter. Sie hüpft von einer Pobacke auf die andere und deutet sehr auffällig auf die Uhr an ihrem Arm. Der Drang, laut loszulachen, steigt mir die Kehle hoch. Ich schlucke ihn runter, es funktioniert nicht, ich bin kurz vorm Platzen. Um mich abzulenken, schaue ich angestrengt aus dem Fenster, aber dann streift mich Michaelas Blick. Sie zieht eine Grimasse. DasBrennen im Hals wird unerträglich. Ich kann nicht mehr und pruste los. Jetzt sehe ich auch den Lehrer wieder sehr deutlich. Klein und stämmig steuert er auf mich zu: »Pola, du wirst heute eine halbe Stunde nachsitzen!« Für mich klingt das wie ein Todesurteil. Tränen tropfen auf mein Heft, die Buchstaben lösen sich in der Tinte auf, es ist mir egal! Ich will endlich raus hier und Eis essen gehen! Die Klingel reißt mich hoch – Schulschluss! Die Mädchen jauchzen auf, werfen die Schultaschen über ihre Schultern, reißen Stühle um. Sie jagen hinaus. Nur der Lehrer und ich sind noch im Klassenzimmer – und Micha bleibt auf ihrem Stuhl sitzen und verkündet bestimmt, dass sie mit mir nachsitzen werde. Ich muss in meine Tränen hinein lachen, ich liebe sie dafür! Dem Englischlehrer ist das egal. Er trägt uns auf, ein Kapitel zu übersetzen, und rauscht hinaus. Meine Freundin setzt sich neben mich in die Bank: »Dieser Idiot! Komm, wir schaffen den Scheiß in einer Viertelstunde!« Wir arbeiten wie Dampfmaschinen und sind tatsächlich schnell fertig. Nachdem wir die Blätter aufs Pult geworfen haben, fliegen wir aus der Tür, die Treppe hinunter bis vors Schulportal. Micha grinst mich an, ich grinse zurück: Schwabing und die Eisdiele Cortina in der Leopoldstraße warten auf uns. Arm in Arm schlendern wir über den Schulhof. Ein kurzer Halt, ich muss endlich meine Füße befreien, laufe barfuß über den Kiesweg. Welche Jungs werden da sein? Welche dummen Ziegen werden sich wichtigmachen und rumzicken? Mein Körper steht unter Strom.
    Dann erregt ein Mann meine Aufmerksamkeit. Er läuft auf der Straße vor dem Tor zum Schulhof auf und ab. Wie ein Löwe im Käfig: von links nach rechts, von rechts nach links. Er schiebt einen riesigen himmelblauen Kinderwagen vor sich her. Eigentlich sieht er aus wie ein amerikanischer Straßenkreuzer mit Schutzblechen und überall Chrom. Der Fremde saugt nervös an seiner Zigarette, er scheint sie aufzufressen! Dann wirft er den Kopf in unsere Richtung. SeinBlick sticht mir direkt in den Hals; augenblicklich schnürt es mir die Kehle zu. Ein Gefühl, als würde alle Kraft aus mir herausgesaugt. Der Mann mit dem himmelblauen Kinderwagen ist mein Vater! »Hat er schon wieder ein neues Kind?«, höre ich mich sagen. Er erkennt mich, fällt beinahe über seine Füße, stolpert auf mich zu. Micha löst sich von mir, tritt zur Sicherheit einen Schritt zur Seite. Hände bohren sich in meine Schultern, ich werde gezerrt, gequetscht, geküsst, bis ich keine Luft mehr bekomme. Wie eine Marionette lasse ich alles mit mir geschehen. In mir toben Enttäuschung, Freude, Unbehagen, Spannung, alles zugleich. Meine Freundin zieht sich noch weiter zurück und verdrückt sich seitwärts wie ein Krebs um die nächste Straßenecke. Als mein Vater den Griff um meine Schultern etwas lockert, mache ich meinen Hals lang, ich möchte das Baby

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