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Kindermund (German Edition)

Kindermund (German Edition)

Titel: Kindermund (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pola Kinski
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sehen. Zwischen den Spitzenvorhängen entdecke ich nur Kissen und Decken, sonst nichts. Da ist niemand drin. Ich schaue noch einmal genauer hin, aber da ist nichts. Der Kinderwagen ist leer. »Wo ist das Kind?«, frage ich verstört. Er reagiert nicht auf mich: »Mein Engel, er gehört dir, für deine Püppchen! Ich habe ganz München nach einem Puppenwagen abgesucht! Sie waren alle hässlich! So habe ich dir diesen phantastischen Kinderwagen gekauft! Den schönsten und teuersten, den es gibt. Er kommt aus Italien! Komm, mein Geliebtes, wir bringen ihn nach Hause zu Mama, dort steht mein Jaguar. Morgen früh fährst du mit mir nach Rom!« Er nimmt meine Hand, legt sie auf den Bügel, umschließt sie fest mit seiner. So schieben wir gemeinsam, ein Mann und ein Kind mit Schulranzen auf dem Rücken, einen leeren himmelblauen Kinderwagen durch die Straßen. Mein Kopf sinkt tief auf die Brust. Ich ziehe die langen Haare wie Vorhänge vor mein Gesicht. Auf keinen Fall darf mich einer meiner Freunde sehen! Bis nach Hause wage ich es nicht, aufzublicken. Das Gefühl, alle würden mir hinterherglotzen, lässt mich nicht los.
    Zu Hause trägt er den Kinderwagen vier Stockwerke hoch,behutsam, als wäre er ein Heiligtum, und stellt ihn mitten in den Flur. Mama ist entsetzt, fängt sofort an zu schimpfen, dass der Wagen wieder runtermüsse in den Keller, sie habe hier keinen Platz dafür. Mich trifft das nicht, ich weiß mit diesem Ungetüm ohnehin nichts anzufangen. Außerdem würde ich meine Puppenkinder nicht darin spazieren fahren, niemals! Ich würde mich zum Gespött von ganz München machen, wenn ich einen himmelblauen Kinderwagenstraßenkreuzer durchs Viertel schaukelte, mit Puppen drin statt eines Babys.
    Mein Vater schmollt. Verwunderlich, dass er nicht rumbrüllt, Mama und ihren Mann als Spießer beschimpft. Nein, er benimmt sich zahm und gehorsam, weil er genau weiß, dass es von der Laune meiner Mutter abhängt, ob er mich morgen mitnehmen kann. Mama stopft einen Klumpen Kleider in die Reisetasche und streckt sie mir entgegen. Automatisch nehme ich sie ihr ab. »Ihr könnt bei meiner Schwester übernachten. Rotraut hat euch für heute Nacht zu sich eingeladen. Hier geht es nicht. Am besten, ihr fahrt jetzt gleich, sie erwartet euch schon.« Verwundert sehe ich sie an. Hat sie mit meinem Vater schon alles vereinbart? Stimmt es, dass ich morgen mit ihm nach Rom fahre, jetzt, während des Schuljahres? Warum werde ich nie gefragt, ob ich das will? Warum entscheiden sie alles hinter meinem Rücken? Oder sind sie machtlos gegen ihn?
    Meine Mutter verabschiedet sich kurz und knapp von mir und ist verschwunden. Einen Moment bleibe ich stehen und schaue auf die geschlossene Tür. Es geht alles so schnell, und ich möchte nicht weg.
    Ich steige in Babbos Auto. Der Innenraum ist winzig und eng. Ich kann noch nicht mal meine Beine ausstrecken. Die Fahrer der anderen Autos können uns auf den Kopf spucken. Ich fühle mich wie in einer Sardinenbüchse.
    Meine Tante Rotraud erscheint mit Apfelgesicht und Pfirsichhaut, lacht und gurrt in allen Tonlagen. Ich habe michimmer wohlgefühlt in ihrer Altbauwohnung mit den hohen Decken und den Antiquitäten. Sie führt uns stolz in ihr Schlafzimmer, das sie für meinen Vater und mich hergerichtet hat. Gegenüber dem Himmelbett steht jetzt noch ein Feldbett. Ich will nicht mit ihm in einem Zimmer schlafen! Wuttränen laufen mir übers Gesicht. Rotraut legt den Arm um mich: »Herzilein, was ist denn? Ist dir das Bettchen zu klein?«
    »Nein!«, fahre ich sie an. Bitterer Geschmack macht sich auf meiner Zunge breit. Ekel fließt mir die Kehle hinunter und dreht mir den Magen um. Ich habe Angst. Ich laufe hinaus. Man ruft meinen Namen.
    Nachdem ich mir im Bad Massen von Wasser ins Gesicht geworfen habe, folge ich den Stimmen in die Küche. Die beiden sitzen am gedeckten Tisch in einer Wolke aus Qualm. Mein Vater zündet immer eine Zigarette an der noch nicht zu Ende gerauchten anderen an. Rotraut legt Schnittchen auf meinen Teller. »Herzilein, du musst was essen! Du brauchst Kraft, wenn ihr morgen früh nach Rom fahrt!« Das Wort Rom löst einen Würgereiz in mir aus. Ihr zuliebe beiße ich einmal ab und kaue lange und gründlich, aber ich kann den Brei nicht schlucken, als hätte ein Deckel meine Kehle verschlossen. Der Brei wird zum Brocken. Wenn ich etwas gefragt werde, schiebe ich das Ding in eine Backe, lächle verbindlich und versuche, deutlich zu antworten. Mein Vater redet auf meine

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