Kindermund (German Edition)
ekle mich.
»Ach, lass mich doch in Ruhe! Arschloch! Schlampe!« Er knallt die Tür, ich zucke zusammen, bin endlich allein. Schuldgefühle quälen mich: dass ich ihn enttäuscht habe, dass ich es überhaupt zugelassen habe. Ich weine hemmungslos. Wo ist meine Mama? Warum holt sie mich nicht raus hier? Ich will nicht mehr leben! Mein Vater lässt sich nicht blicken. Wahrscheinlich legt er sich in ein anderes Bett, oder er schleicht herum, findet keine Ruhe, raucht hundert Zigaretten. Auf keinen Fall darf ich einschlafen! Ich habe Angst, dass er wiederkommt. Oder vielleicht wache ich gar nicht mehr auf.
Es wird blau im Zimmer, die ersten Vögel zwitschern. Ich sehe das Gesicht meines Vaters vor mir, schemenhaft, verschwommen. Er trägt einen schneeweißen Anzug. Ich spüre feuchte Lippen auf meinen, eine Zunge drängt sich vor. Sein Geruch ekelt mich. Ein Gemisch aus geputzten Zähnen, Nikotin und Parfüm steigt mir in die Nase, mir wird schlecht.Ich hetze nackt ins Bad, stecke den Kopf unter die Wasserleitung, schaufle mir eiskaltes Wasser in den Mund, über die Haare, immer mehr Wasser. Das Becken läuft über, ich tauche unter. Wie lange kann man ohne Luft auskommen? Wie lange dauert es, bis man ertrinkt?
»Bist du wahnsinnig geworden? Was machst du denn da?!«, höre ich meinen Vater durch die Wasserwand. Ich werde an den Haaren an die Luft gerissen. »Was soll das! Ich habe dir Kleider ausgesucht! Hier, zieh dich an!« Ich nehme ihm die Sachen ab, bedecke Brüste und Scham damit, trau mich nicht, ihn anzusehen.
»Ich möchte mich allein anziehen!« Wutschnaubend verlässt er das Bad, knallt die Tür hinter sich zu, dass Waschbecken und Armaturen vibrieren.
Wir fahren mit dem Rapido nach Neapel, dort werdenwir das Schiff nach Capri nehmen. Während der Eisenbahnfahrt sitze ich meinem Vater gegenüber. Ich kann seinen beleidigten Blicken nicht ausweichen. Ich fühle mich gefangen, möchte fliehen. »So etwas wie gestern machst du nie mehr!« Die Stimme durchbohrt mich. Ich krümme mich, als ich nicke.
Ich stapfe durch einen Haufen von rosa Plastikbabypüppchen. Alle ohne Arme und Beine. Es knackt bei jedem Schritt. Ich muss sie alle in meinen hellblauen Kinderwagen packen, muss sie retten vor dem Riesentier, das sie zertreten, zermalmen wird. Sobald der Wagen voll ist, leert er sich von selbst. Der Puppenberg wird immer größer. Ich muss mich beeilen, ich stopfe, stopfe, ein weißes, viel zu enges Kinderhemdchen klebt an mir wie eine zweite Haut. Das Riesentier kommt näher …
Der Weg zur Schule mit dem Fahrrad ist nicht mehr so einfach wie früher. Überfällt mich ein Gedanke, der mir Angst macht, muss ich anhalten, einige Meter zurückfahren und das Gedachte rückgängig machen, sonst wird etwas Schlimmes passieren. Deshalb komme ich manchmal viel zu spät zur Schule.
Meine Puppenkinder bringe ich immer noch jeden Abend ins Bett. Nur kann ich mich nicht entscheiden, wer wo liegen soll. Wenn ich darüber einschlafe, habe ich Glück.
M orgen werde ich für sechs Wochen nach Madrid fliegen. Mein Vater will das so, er dreht dort einen Film. Seit Tagen flattere ich wie ein Huhn durch die Wohnung.
»Ich muss noch etwas Wichtiges erledigen!«, rufe ich Mama zu und bin in ein paar Sätzen auf der Straße. Im Zwielicht sieht das Grün der Schafwiese giftig aus. Ich spüre das nasse Gras an meinen Knöcheln. Die Abendsonne scheint auf das Zelt des kleinen Zirkus, der jedes Jahr für drei Wochen hier gastiert. Zwei Lamas, ein zahnloser Löwe, ein Vogel Strauß. Mit dem Esel ziehen sie tagsüber durch die Straßen und betteln um Geld fürs Winterfutter. Der Clown reißt am Eingang die Karten ab. Gerade balanciert er vor dem Zelt auf einem Seil, das etwa fünfzig Zentimeter über dem Boden gespannt ist. Ein Typ mit Kruselhaaren bis in den Nacken und tätowierten Armen schiebt die Schiffschaukeln an. Der Geruch nach Pferdescheiße und Sägemehl kriecht mir in die Nase. Auf einem der drei Ponys sitzt ein Kind. Die Tiere traben müde ihre ewig gleichen Runden, geführt von einem lustlos wirkenden Mädchen. Es träumt bestimmt von einem Märchenprinzen, der es entführt. Mein Ziel ist das kleinste Riesenrad der Welt. An ihm hängen nur drei Kabinen. Selbst am höchsten Punkt kann man das Türchen öffnen und rausspringen. Von weitem sehe ich ihn. Ruben, sechzehn Jahre alt, bringt das Riesenrad zum Laufen und wieder zum Stehen. Als ich ihn zum ersten Mal sah, habe ich mich in seine grünen Augen verliebt. Die Wimpern
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