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Kindermund (German Edition)

Kindermund (German Edition)

Titel: Kindermund (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pola Kinski
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pinkeln.
    Er hat wohl nichts bemerkt, bis ins Bad höre ich sein hysterisch wieherndes Gelächter. Ich drücke die Klinke nach unten und mache einen langen Hals in die Richtung, aus der das Lachen kommt: Alle drei kleben an einem der hohen Mansardenfenster und kichern über das, was sie draußen sehen. Mich packt die Neugierde, ich schleiche mich an. Mein Vater dreht sich nach mir um, er legt seinen Arm um meine Schulter, drückt mich gegen das Fensterbrett: »Das gibt es nicht! Das ist nicht zu fassen! Schau doch mal!« Unter unsauf einer großen Terrasse wird eine Silvesterparty gefeiert. Herren im Smoking, Damen in bonbonfarbenen Cocktailkleidern halten Gläser an dünnen langen Stielen zwischen den Fingern. Auf Hochfrisuren und graumelierten Schläfen sitzen Papphütchen, festgezurrt mit Gummibändern unterm Kinn. Einige ältere Herren pusten in Papierpfeifen, diese strecken sich, geben ein ärmliches Tröten von sich und rollen sich wieder zusammen. Die ganze Gesellschaft wirkt lächerlich und infantil, wir biegen uns vor Lachen. Wenn der Blick einer Person unser Fenster streift, ducken wir uns blitzschnell hinter die Fensterbank. Ist die Luft rein, schieben wir uns Millimeter um Millimeter wieder nach oben. Die Party strebt ihrem Höhepunkt zu. Die Gäste werden immer enthemmter, so mancher Herr stolpert über eine halb entblößte Dame.
    Mitternacht! Der Himmel brennt über Rom, explodierende Farben erhellen den Vatikan. Wir trinken Champagner. Ich bin angetrunken und müde, bitte darum, schlafen gehen zu dürfen. In meinem Bett wühle ich mich tief in die Kissen. Ich sehne mich nach Mama. Raketen knallen in meinem Kopf. Ich reiße die Augen auf, die letzten Funken des Feuerwerks spritzen zu mir herein. Ein Schatten huscht am Fenster vorbei. Sofort bin ich hellwach. Der Schatten kommt auf mich zu. Ich beiße in meine Lippe, schmecke warmes Blut. Der Schatten beugt sich über mich, ich will schreien, der Schatten legt seine Hand auf mein Gesicht. Es ist mein Vater. »Bitte nicht! Das nächste Mal, ich verspreche es, das nächste Mal bestimmt!«, wimmere ich. Jede Nacht, wenn alle schlafen, kriecht er zu mir unter die Decke. Ich zittere vor Angst, ich ekle mich vor ihm, noch mehr vor mir selbst. Ich will sterben. Ist er aus meinem Zimmer verschwunden, renne ich ins Bad, umklammere die Kloschüssel und kotze, kotze, bis nicht mal mehr Galle kommt. Ich kotze bis zur Besinnungslosigkeit. Ich muss die Schuld aus mir herauskotzen. Dann schrubbe ich mich mit einer Bürste von obenbis unten, immer wieder. Ich knie in der Wanne, flehe mit zum Himmel gefalteten Händen, dass Gott mir verzeihen möge!
    Eingerahmt von meinen Koffern warte ich im Flur auf meinen Vater. Er wird mich gleich zum Flughafen fahren. Biggi schläft noch, meine Schwester lässt meine Hand nicht los: »Ich will nicht, dass du weggehst!« Ich drücke sie an mich. Ein Glücksgefühl durchströmt mich, als ich an all die Kleider in den Koffern denke. Ich werde sie in München tragen und genießen. Die Zeit in Rom habe ich ausgehalten. Jetzt fängt das Leben neu an. Mein Vater schiebt mir ein Bündel großer Scheine in die Tasche: »Für dich, mein Engel!« Er schickt meine Schwester zurück in ihr Zimmer.
    Das Flugzeug wartet.
    In München kommt mir alles eng und spießig vor. Die Wohnung, die Möbel, die Mahlzeiten. Mamas Kälte und Strenge. Heinrich, der in Trainingshose und Rippunterhemd durch die Wohnung rennt und ständig vor sich hin redet. Der am Sonntag noch schnell die letzten zehn Minuten der katholischen Messe mitnimmt, damit der liebe Gott ihm einen Platz im Himmel reserviert. Nur sein Klavierspiel kann ich ertragen.
    Die Welt meines Vaters gefällt mir viel besser.
    Mama muss in die Elternsprechstunde. Die Lehrer sagen, dass ich Phantasie und Wirklichkeit nicht auseinanderhalten könne. Und dass ich sehr begabt, aber auch faul sei. Für Letzteres sperrt mich Mama einen Nachmittag lang ins Kinderzimmer. Ich schlage mit den Fäusten gegen die Tür, sie verlässt die Wohnung.
    Ich komme mit dem Leben in München nicht mehr zurecht, werde frech und renitent. Nachts im Bett stelle ich mir vor, tot zu sein. Einfach verschwinden, ohne jemals sichtbar gewesen zu sein.

E nglischunterricht, 3. Klasse Gymnasium. Ich quäle mich durch die letzte Stunde, die sich endlos zieht. Ich rutsche auf meinem Stuhl herum, verbiege mich in alle Richtungen, und ständig schaue ich auf meine Armbanduhr: Der Minutenzeiger scheint sich überhaupt nicht

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