Kindermund (German Edition)
donnert Babbo. Mir ist das egal. Ich habe noch nie etwas so Widerliches geschmeckt. Die Kugeln knirschen, sie bewegen sich weder vorwärts noch rückwärts. Instinktiv greife ich nach dem Wasserglas, sauge möglichst viel ein, meine Backen blähen sich noch mehr. Mit einem einzigen Schluck würge ich die Masse hinunter. Ein Schweißtropfen fällt auf die Tischdecke. Während ich mich langsam erhole, legt mein Vater immer mehr von den Meerestieren und dem Schwabbelfleisch auf den Teller vor mir. Ich weiß, ich muss mir etwas einfallen lassen, denn essen werde ich das Zeug auf keinen Fall. In Momenten, in denen mein Vater nicht auf mich achtet, packe ich eines der Stücke und lasse es von der Stoffserviette auf meinem Schoß unauffällig auf den Boden rollen, während ich ihn lächelnd fixiere. Ständig kaue ich Weißbrot, um vorzuspielen, ich würde die Meeresfrüchte essen. Auf diese Weise leere ich den ganzen Teller. Ich lehne mich erleichtert zurück, leider hat mein Vater falsch verstanden und belohntmich mit einer zweiten Portion. Tränen der Verzweiflung steigen mir in die Augen, ich wische sie schnell weg, damit er nichts bemerkt. Also alles noch mal von vorne: Brot kauen, Ekelzeug vom Teller ziehen, lächeln und fallen lassen. Ein bisschen mulmig ist mir schon. Unter meinem Stuhl versammelt sich eine beachtliche Menge von Meerestieren.
Ich bin sehr konzentriert bei der Arbeit, es wird geschwiegen und gegessen. Plötzlich ein Knall, dumpf und böse: Mein Vater schlägt mit der Faust auf den Tisch. Krebsschalen fliegen, Gläser klirren. Er reißt sich die Serviette vom Hals, fährt hoch, als hätte er eine Ratte gesehen. Sein Stuhl stürzt um, auf seiner Stirn quillt die Zornesader. Vielleicht platzt sie, und er fällt tot um! Nein, so etwas darf man nicht denken! Schuldgefühle plagen mich, aber nur kurz, dann setzt jäh ein solch unglaubliches Gebrüll ein, dass überall Messer, Gabeln und Löffel fallen gelassen und Weinflaschen umgestoßen werden. Dann Stille, gespenstisch und bedrohlich. Die Augen meines Vaters treten weit aus ihren Höhlen, Schaumklumpen bilden sich in den Mundwinkeln. Ich starre ihn an, seine Nasenflügel zittern, die Oberlippe zuckt unkontrolliert. Bebend vor Zorn zerrt er Geldscheine tief aus seinen Hosentaschen, schleudert sie mit einer Armbewegung von sich, als wollte er jemanden niederschlagen. Die Scheine flattern unbeeindruckt in die Fischteller. Er befiehlt uns, mit ihm sofort dieses Pissloch zu verlassen. Dann stößt er, immer noch schreiend, mit der Hüfte gegen eine Tischkante. Er flucht, schnaubt, rudert wild mit den Armen und jagt zum Ausgang. Mit einem Ruck springen auch wir drei auf, stürzen ihm nach. Wir wissen, dass wir ihm auf der Stelle zu folgen haben. Wie eine Entenfamilie stolpern wir hinter ihm her aus dem Restaurant, begleitet von Augen, überall Augen … Ich bin rot und heiß vor Scham. Jeder Schritt ist eine Qual. Blicke bohren sich schmerzhaft in meinen Rücken. Ich wünsche mir sehnlichst, auf der Stelle im Boden zu versinken. Draußen beginne ich zu zittern. Ichschäme mich vor all den Menschen da drin. Nie wieder werde ich zu meinem Vater fahren! Lieber bin ich in München allein!
Auf dem Weg zum Auto und während der Fahrt pöbelt mein Vater immer weiter. Er rast, als würden Mörder uns verfolgen. Die Finger ineinandergekrampft, flehe ich zum Himmel: »Lieber Gott, bitte lass uns keinen Unfall haben!« Allmählich begreife ich den Grund für seinen Hass: Ein Gast am Nebentisch hat einen Augenblick zu lange zu uns herübergesehen.
Zu Hause entspannt sich die Situation etwas, mein Vater streift sich die Kleider vom Leib, steigt über sie hinweg, schlüpft in einen Morgenmantel und wirft sich in einen Sessel. Seit wir die Wohnung betreten haben, stehe ich mit zusammengepressten Beinen auf derselben Stelle, weiß nicht, wie ich die Stimmung deuten soll. Wird er gleich aufspringen, mich packen, schütteln, anschreien, dass ich Schuld hätte am Glotzen dieses Arschlochs? Dass irgendetwas an meinem Verhalten ihn gereizt hätte? So wie er Biggi beschuldigt hat, damals in Berlin, sie sei absichtlich mit gespreizten Beinen ins Taxi gestiegen, um den Blick des Dreckskerls von Fahrer unter ihren Minirock zu locken. Ich muss dringend pinkeln, wage es aber nicht, mich zu rühren. Plötzlich spüre ich es nass und warm zwischen meinen Schenkeln. Ich presse meine Hände gegen meinen Schlüpfer, stürze ins Klo, schaffe es gerade noch, nicht auf den Teppich zu
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