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Kindermund (German Edition)

Kindermund (German Edition)

Titel: Kindermund (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pola Kinski
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den Papierkorb unter dem Tisch. Er genießt, er wirkt zufrieden, fast fröhlich.
    Ich stehe wie versteinert da, dann stolpere ich zur Toilette, schließe mich ein und breche heulend zusammen. Lange hänge ich schluchzend über der Schüssel und schmiede Rachepläne, von denen ich weiß, dass sie niemals Wirklichkeit werden.
    Das Flamencolokal ist nicht mehr als ein enger Raum. Im Halbdunkel stehen kleine runde Tische vor Sofas. Die Luft riecht abgestanden und stickig, das Atmen fällt schwer. Auf der hellerleuchteten Bühne Gitarristen, ein Tänzer und Tänzerinnen. Ein Rausch von wirbelnden Stoffen, Farben, Punkten, Spitzen zieht an mir vorbei. Das Klacken der Kastagnetten, wütendes Stampfen der Füße in beschlagenen Schuhen. Sie wollen die Erde festtreten. Ich bin immer noch traurig und nicht besonders interessiert an diesem Theater, und trotzdem muss ich gemeinsam mit meiner Schwester immer wieder kichern über die stolzen, zur Fratze verzerrten Gesichter der Tänzer. Zum Glück bemerkt mein Vater nichts, sonst würde er uns wieder anschreien, uns als blöde Landeier beschimpfen.
    Später im Hotel, als alle schlafen, krieche ich unter den Tisch zum Papierkorb. Licht kommt nur aus der Küche, aber es genügt. Das Schild habe ich schnell gefunden, aber auch die Fotoreste will ich unbedingt zurückhaben. Vorsichtig, um ja kein Geräusch zu machen, leere ich den Inhalt auf den Boden, breite ihn auseinander und sammle alle Schnipsel auf. Die zerknüllten Papiere werfe ich zurück in den Korb.Schritte, die näher kommen, die Füße meines Vaters laufen am Tisch vorbei, sie verschwinden im Bad. Er hat mich nicht gesehen. So schnell ich kann, rutsche ich unter dem Tisch hervor. Er kommt zurück, sieht mich, lächelt mich an: »Da bist du ja, mein Engel!« Dann zieht er mich hoch, legt seinen schweren Arm um meine Schulter und schiebt mich in die Küche. Er schließt die Tür.
    Im Morgengrauen schreibe ich einen Brief an Mama: dass es hier unerträglich sei, dass ich nie mehr zu ihm fahren werde!
    Wir verlassen das Hotel gegen Mittag, ich gebe den Brief heimlich an der Rezeption ab. Mein Vater hat entschieden, dass wir zur Schneiderin müssen, damit auch ich bald aussehe wie eine kleine blonde Flamencotänzerin. Und unbedingt brauche ich neue Schuhe. Obwohl ich sie hässlich finde und nichts damit anzufangen weiß, zwingt er mir eine Reihe von Sandaletten aus goldenem, silbernem und schwarzem Lackleder mit hohen Pfennigabsätzen auf. Später im Hotel quält er mich stundenlang mit »Laufen üben«: Er schiebt in der Wohnhalle Sessel, Sofa und Tische zur Seite, und ich stakse auf diesen Prothesen auf und ab, angefeuert von seinem Gemecker. Nie mache ich es richtig. Immer wieder von vorne, bis ich meine Füße nicht mehr spüre und nur noch stolpere. Schließlich entlässt er mich maulend: In meinem Alter müsse man doch auf hohen Absätzen gehen können! Darauf bestehe er.
    Ich versuche, mich halb schlafend mit dem Tag anzufreunden. Am Frühstückstisch empfängt mich mein Vater perfekt gekleidet und mit verbitterter Miene. Was habe ich nun wieder verbrochen?
    Der Portier habe meinen Brief zurückgebracht, und da er dachte, er sei an ihn adressiert, habe er das Kuvert geöffnet und meine Klagen gelesen.
    Als Sünderin stehe ich vor ihm und warte auf die Beschimpfungen und Drohungen, die gleich über mich hereinbrechen werden. Gefährliches Schweigen zerschneidet den Raum zwischen uns, doch anstatt loszubrüllen, spielt er plötzlich den Gebrochenen, tief Verletzten. So zwingt er mich, ihn zu trösten, zu beteuern, wie schön es bei ihm sei und dass ich so etwas niemals mehr tun werde. Nur zögerlich gibt er die Pose des Gekränkten auf und bittet mich wieder, zu ihm zu ziehen. Der Gedanke, ihm pausenlos ausgeliefert zu sein, ist mir unerträglich. Wie alles um ihn herum bin ich sein Eigentum. Er kontrolliert mein Leben wie ein Diktator. Was ich trage – vom Schlüpfer bis zum Haarband –, was ich kaufe oder besitze, was ich esse und trinke, was ich lese. Womit ich mich beschäftige, mein Lebensgefühl, meine Meinung zu allem und jedem. Er bestimmt, welche Menschen mir gefallen dürfen und welche nicht, und dass alle Männer außer Sir Laurence Olivier und einige Verstorbene Kretins sind. Ich glaube, es macht ihn rasend, dass er nicht auch noch die Gedanken kontrollieren kann.
    Das hemmungslos laute Schreien meiner Stiefmutter weckt mich mitten in der Nacht. Meine Schwester liegt eng an mich geschmiegt in meinem Arm. Sie

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