Kindermund (German Edition)
hat sich am Abend vor den pausenlosen Streitexzessen zwischen Biggi und meinem Vater zu mir geflüchtet. Ich steige aus dem Bett, wanke in den Flur. Was ist passiert? Biggis Mutter ist gestorben. Der Bote hat soeben das Telegramm gebracht. Ein paar Stunden später fliegen Biggi und meine Schwester nach Berlin.
Nun gibt es kein Entrinnen mehr. Tagsüber spielt mein Vater den Revolutionär in Doktor Schiwago , der für Freiheit und Menschenrechte kämpft, und abends macht er sich über sein Kind her. Ist er außer Haus, darf ich die Suite nicht verlassen, nur in den Swimmingpool auf dem Hoteldach lässt er mich. Dort verbringe ich Stunden im Liegestuhl oder im Wasser, lasse mich auf den Grund des Beckens sinken und versuche herauszufinden, wie lange es dauert, bis man ertrinkt. Wenn er zurückkommt, bin ich in seiner Gewalt, immer. Nachts stehle ich mich aufs Klo und ramme mir die Finger so lange in den Hals, bis ich kotze. So habe ich das Gefühl, einen Teil der Sünde loszuwerden. Trotzdem werden die Schuldgefühle stärker, vor Gott, vor Biggi, und die Angst vor Bestrafung und Tod nimmt zu.
Nach etwa einer Woche kehren Biggi und Nastja endlich zurück, und auch der Film ist abgedreht. Die Zeit im Hochsicherheitstrakt neigt sich dem Ende zu.
Von Madrid fliegen wir nach Paris. Statt zu landen, kreist das Flugzeug über der Stadt, die Stewardessen verschwinden im Cockpit. Ich suche die Nähe meines Vaters, schiebe meine Hand in seine. Der schüttelt mich ab und bellt: »Hab selber Angst!« Heimlich falte ich meine Hände unter meinen Knien und flehe zu Gott, er möge uns sicher runterbringen, bitte! Ich verspreche, zum Dank in der Kirche eine Kerze anzuzünden. Kurz darauf setzen wir auf der Landebahn auf. Mit der Kerze lasse ich mir Zeit, aber ich vergesse sie nicht.
Mein Vater zeigt uns in Paris das Nuttenviertel Pigalle und kauft Biggi und mir Reizwäsche: Nylonschlüpfer in Rot, Schwarz, Dunkelviolett, manche unten offen. Oder Dreiecke mit Bändern. Sie verdecken kaum das Nötigste. Im Hotel Napoleon ziehe ich einen Schlüpfer nach dem anderen an, kreise vor dem Spiegel in meinem Schlafzimmer mit den Hüften. Das Fenster steht offen. Auf dem Gerüst am Haus gegenüber entdecke ich Bauarbeiter. Ich tanze mit nacktem Oberkörper, lasse die Hüften weiter kreisen, aber die Arbeiter bemerken mich nicht. Ich recke die Arme in die Luft, drehe mich immer schneller, meine Haare fliegen um mich herum. Ich gerate in eine Art Rauschzustand. Schrilles Pfeifen lässt mich auf der Stelle innehalten. Ich wage einen Blick zum Gerüst: Die Männer stehen da, auf die Metallstreben gestützt, und glotzen zu mir herüber. Plötzlich schäme ichmich fürchterlich, ducke mich unter das Fenster und will nie wieder auftauchen. Das Gelächter der Kerle macht alles noch schlimmer. Auf allen vieren krieche ich zu meinem Bett und schlüpfe unter die Decke. Später wickle ich mich bis zum Hals in das Leintuch und schließe das Fenster, ohne noch einen Blick nach draußen zu werfen.
B iggi, Nastja und ich haben sturmfrei. Mein Vater dreht in London. Ein herrlicher Zustand! In den Tag hineinleben, ohne ständig beobachtet und gemaßregelt zu werden. Der Rolls-Royce samt Paolo, dem Chauffeur, steht uns zur Verfügung. Dieses Mal kann ich es kaum erwarten, dass das Flugzeug am Flughafen in Rom endlich zum Stehen kommt. Mit Biggi und Nastja werde ich all das machen, was ich mir ausgemalt habe. Endlich ausgehen, wann immer und wohin wir wollen. Uns frei bewegen, ohne seine ständigen Kontrollblicke. Keine Angst haben vor seinen Pöbeleien. Mich nicht schämen, dass er die Straße unterhält mit seinem Proletenton, dass er tobt und brüllt wie ein Affe.
Drei Prinzessinnen werden aus dem Rolls-Royce gleiten. Der Chauffeur muss uns in seiner sandfarbenen Livree die Türen öffnen. Wir werden von Geschäft zu Geschäft schlendern, uns Restaurants aussuchen, in denen es keine Spinnen und Krebse zu essen gibt, sondern Spaghetti und Pizza. Danach werden wir uns unter die fröhlichen Menschen mischen, mit ihnen lachen und tanzen. Und Paolo wird warten müssen, bis wir ihn rufen, damit er uns nach Hause fährt.
Ich spüre Gummibällchen unter den Fußsohlen, als ich Biggi und meiner Schwester entgegenhüpfe. Der Rolls-Royce steht direkt vor dem Ausgang des Flughafens, er verursacht ein Verkehrschaos. Und der Chauffeur denkt nicht im Traum daran, uns in den Wagen zu helfen. Beim Einsteigen bleckt er nur kurz die Zahnreihen und fährt los. Die Leute
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