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Kindermund (German Edition)

Kindermund (German Edition)

Titel: Kindermund (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pola Kinski
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sind dunkle Fächer und werfen in den Augenwinkeln Schatten. So lange habe ich das Riesenrad umkreist, bis er mich endlich ansprach. Ein paarmal erst haben wir uns getroffen hier auf dem Zirkusplatz. Jetzt sitzen wir nebeneinander auf einem Balken. Manchmal berühren wir mit den Fingerspitzen den Arm des anderen, sehen uns verlegen an. Oder wissen im Augenblicknichts zu sagen und betrachten unsere Füße. Er stottert ein bisschen, aber das stört mich nicht. Ich erzähle ihm meistens von der Schule, den Strebern und dem Lieblingslehrer. Er spricht, wenn überhaupt, nur vom Zirkus.
    Wir wissen beide, dass wir uns erst nächstes Jahr wiedersehen werden. Wenn ich aus den Ferien zurückkomme, hat der Zirkus sein Zelt längst abgebaut.
    »Ich hab nur kurz Zeit, ich fliege morgen!«
    »Ach so. Ja, ich weiß.« Er lächelt, schiebt ein Päckchen in meine Hand, küsst mich kurz und fest auf den Mund und läuft davon. Fast falle ich vom Balken, so aufgeregt bin ich. Jetzt ist es ganz sicher, ich bin verliebt! Ist auch höchste Zeit, ich bin schon dreizehn.
    Zu Hause angekommen stürze ich in mein Zimmer und öffne langsam meine Hand. Rotes Seidenpapier, rundum mit Tesafilm verklebt. Millimeter um Millimeter reiße ich die Hülle von dem Geschenk. Zum Vorschein kommen zwei Passfotos von Ruben, eines lachend, eines ernst, und ein silbernes Schild, in das sein Name eingraviert ist. Es muss mal an einem Kettchen befestigt gewesen sein.
    Meine Mutter ruft mich zum Essen. Hektisch vergrabe ich meinen Schatz in meiner Umhängetasche.
    Mama, Heinrich und mein kleiner Bruder sitzen vereint um den Küchentisch. Ich hole Teller und Tasse aus dem Geschirrschrank, nehme eine Scheibe Brot aus dem Korb zwischen ihnen, ziehe meinen Essplatz über dem Mülleimer heraus und schiebe den dreibeinigen Hocker unter meinen Po. Ich schaue auf meinen Teller, dann zur heiligen Familie. Mamas Augen treffen mich kurz und kalt. Eigentlich habe ich gar keinen Hunger. Also stelle ich alles zurück und verabschiede mich fürs Bett. Der Kleine wirft sich mir entgegen, umschlingt meine Beine. Ich drücke ihn fest an mich.
    »Wenn du dich weiterhin ständig mit Heinrich streitest, musst du ins Internat!«, teilt mir Mama kühl und eher beiläufig mit. Es ist acht Uhr morgens, und wir sitzen in der Straßenbahn auf dem Weg zum Flughafen. Meine Mutter hält meinen kleinen Bruder zärtlich umarmt auf ihrem Schoß. Ein messerscharfer Schmerz fährt mir in den Magen. Mir schießen die Tränen in die Augen. Wie durch ein Fenster, über dessen Scheibe innen das Wasser in Strömen läuft, sehe ich, wie sie ihr Kinn auf den Kopf meines Bruders legt und lächelnd aus dem Fenster blickt. Dabei summt sie leise vor sich hin.
    In Trance sitze ich im Flugzeug, steige in Frankfurt um und werde in Madrid ausgespuckt. Mein Vater stellt fest, dass ich zauberhaft aussähe, gar nicht verschwitzt wie die anderen Passagiere! Biggi und Nastja nehme ich kaum wahr. Im Taxi geht es zum Hotel. Alles ist groß, herrschaftlich, alte, reich verzierte Gebäude, hupende Autos – mein Vater flucht. Der Fahrer ist verunsichert, dreht sich mehrmals ängstlich um. Dann hält er vor einem Turm: Hotel Torre de Madrid, 36 Stockwerke hoch. Ich bin mir sicher, dass die oberen Zimmer über den Wolken liegen. Die Fahrt in den 36. Stock dauert. Ich halte die Luft an, solange ich kann, mehrmals. Nastja lässt meine Hand schon seit dem Flughafen nicht mehr los, und Babbo mustert mich mit einem schwammigen Zug um den Mund. Biggi lächelt ins Leere.
    Wir sind da. Es ist kein Hotelzimmer, sondern eine Luxussuite, bestehend aus mehreren ineinander übergehenden Zimmern, Bädern, einer Küche. Der sogenannte Wohnraum, weit wie eine Halle, hat verschiedene Ebenen und ist an einer Breitseite völlig verglast mit Blick über die Stadt und auf die Berge. Ich komme mir vor wie auf dem Dach der Welt. Lange Zeit bin ich völlig gefangen von dieser Aussicht und merke nicht, dass mein Vater meinen Koffer geschnappt hat und wie üblich durchwühlt. Diesmal habe ich mir genau überlegt, was ich einpacke und was ich vor seinen Klauen schützen will.
    Also durchsucht er jetzt meine Handtasche, auch das Portemonnaie aus Krokoleder, das er mir mal geschenkt hat. Er fingert in allen Fächern, zieht Bildchen und Namensschild von Ruben heraus und sagt in spöttischem Ton: »Wer ist dieser Kretin? Das muss ich leider wegwerfen!« Dann zerreißt er die Fotos vor meinen Augen und wirft sie gemeinsam mit dem Schild angewidert in

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