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Kindermund (German Edition)

Kindermund (German Edition)

Titel: Kindermund (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pola Kinski
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Weißglut bringe – mir gibt ihre Reaktion ein Gefühl von Macht.
    Eines Abends beantworte ich keine der Fragen meiner Mutter, beschimpfe sie aber mit den übelsten Ausdrücken. Da packt meine Mutter plötzlich meine alte Reitpeitsche und schlägt auf mich ein. Ich flüchte nur mit Unterhose und Hemd bekleidet ins Treppenhaus. Sie verfolgt mich rasend vor Wut, prügelt mich, als wolle sie mich totschlagen. Ich fliehe aus dem Haus zu Michaela. Ihrer Mutter ist das Entsetzen ins Gesicht geschrieben, als ich vor der Tür stehe. Die blutunterlaufenen Striemen an meinen Beinen schwellen gerade zu fetten Wülsten.
    Bei Michaela kann ich ein paar Tage bleiben, danach nimmt mich meine Tante Rotraut bei sich auf. Die Wohnung meiner Mutter betrete ich nicht mehr. Währenddessen reist mein Stiefvater ins Allgäu, um das passende Klosterinternat zu finden. Das Angebot meines Vaters, die Kosten für eine teure Internatsschule in der Schweiz zu übernehmen, schlagen sie aus: »Zu weit weg, zu wenig Kontrollmöglichkeit.« Sie wissen, dass es auch mein Wunsch gewesen wäre, die American School of Switzerland zu besuchen.
    Mein Vater ist außer sich über diese Entscheidung. Er schickt mir 2000 Mark in einem Brief, adressiert an die Eltern meiner Freundin. Ich beschließe, im Klosterinternat mit niemandem ein Wort zu reden, kaufe mir ein mohnrotes Lambswool-Twinset, einen rotkarierten Schottenkilt, einEau de Toilette und einige Paar Schuhe: Ballerinas in rosafarbenem Lackleder, Puppenschuhe mit Riemchen und hohen Absätzen – wie bei ihm! Ich streichle über jedes einzelne Stück, bevor ich die Sachen in einen Karton packe, Paketschnur darumwickle und mit mindestens zwanzig Knoten verschnüre. Keiner darf mir meine Schätze wegnehmen. Unter der Kellertreppe im Haus meiner Tante ist ein gutes Versteck dafür. Aber ich bin unruhig. Immer wieder steige ich die Stufen hinunter, sehe nach, ob nicht ein Dieb meine Kiste gestohlen hat. Als es mich auch vom Esstisch mehrmals in den Keller treibt, fragt mich meine Tante, warum ich denn ständig aufs Klo renne.
    Nachts kommt die Verzweiflung als Rabe zu mir, der seine Krallen in meine Brust bohrt. Ich muss ins Internat. Meine Mutter will mich loswerden. Dann hat die heilige Familie endlich ihre Ruhe vor mir.

D a machen Sie sich mal keine Sorgen, liebe Frau. Wir werden der Dame die Bockigkeit schon austreiben! Darin haben wir Erfahrung, wir haben schon ganz andere Fälle geknackt! Die wird sprechen, glauben Sie mir!« Die Oberin schiebt meine Mutter resolut aus der Tür. Ich stehe verloren in der Mitte des Raumes. Die Schnüre des Kartons schneiden tief ins Fleisch. Ich halte mich mit beiden Händen daran fest. Der Koffer steht neben mir, als würde er nicht zu mir gehören. Ich bin machtlos gegen den Schmerz – gerade hat mich meine eigene Mutter hier abgeliefert, lässt zu, dass mich diese fette Nonnenqualle mit ihren stechenden Schweinsaugen begafft, mich mustert mit einem sadistischen Zucken um die fleischigen Lippen. Sie wölben sich bläulich glänzend mit tiefen Rissen. Ich ekle mich vor ihr. Die gelben Zähne scheinen aus einem einzigen Block zu bestehen. Und diese Hände, schwammig und feucht, ich weigere mich, sie anzufassen. Trotz der hohen Fenster ist das Büro dunkel. Der honigfarbene Holzboden ist so glatt poliert, dass ich mich darin spiegele. Ringsum sind schwere Eichenmöbel an die Wände geschoben. Eine plumpe Kommode verschönern eine Häkeldecke in Unterhosenbeige und ein freudloses Blumengesteck zwischen zwei nie angezündeten weißen Kerzen. Darüber ein Farbfoto des Papstes im Rahmen. Mein Blick streift eine Art Schrein mit Glastür, dessen Inhalt von einem violetten enggerafften Vorhang verborgen wird, wandert zurück zum wuchtigen Schreibtisch zwischen den beiden Fenstern und bleibt an der Wand dahinter hängen: Dort hängt Jesus am Kreuz, groß und einschüchternd. Es riecht nach Kernseife und Bohnerwachs und nach dem Angstschweiß unzähliger Kinder.
    Die Augen der Qualle hängen an meinem Minirock: »So, Fräuleinchen, als Erstes wirst du den Saum deines Rockes,falls man dieses ordinäre Stück Stoff überhaupt so nennen kann, herauslassen. Und zwar während die anderen Mädchen zu Abend essen! Damit du morgen früh bei der Vorstellung der Neuen im Festsaal anständig gekleidet bist. Außerdem wirst du dir jeden Morgen einen Zopf flechten. Hosen sind generell nur mit Rock darüber erlaubt. Und jetzt werde ich dir unsere Schulordnung …« Ihre Konturen, ihre

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