Kindermund (German Edition)
verstört vor meiner Stiefmutter und frage sie, ob man schwanger werden kann, wenn man den Schwanz von einem Mann in den Mund nimmt und dieses eklige weiße Zeug schluckt. Sie lacht mich aus, dann blickt sie mir entsetzt ins Gesicht: »Was hast du mit deinem Mund gemacht, mit deinem Hals?«
Im Spiegel sehe ich, dass meine Ober-und Unterlippe verschwollen und zerbissen sind. Mein Hals ist ein Schlachtfeld, übersät von dunkelroten Bisswunden und Saugmalen. Morgen kommt mein Vater aus London zurück. Der bringt mich um, wenn er mich so sieht! Ich werde panisch. Biggi verspricht, mir zu helfen, und sucht Abdeckstift, Make-up und Puderdose.
In der Morgendämmerung schmiert und klopft meine Stiefmutter Schicht um Schicht der beigen Paste auf Bisswunden und Knutschflecken, tupft Puder darüber, bis nur noch Schatten davon zu ahnen sind. Ich soll meinen Hals möglichst wenig bewegen, damit die Schminke nicht abbröckelt. An meinem Mund versucht sie sich vergeblich. Paste und Puder machen alles nur noch schlimmer.
»Du sagst, du bist hingefallen und hast dir in die Lippen gebissen!«
Es klingelt Sturm, das Gewitter bricht über uns herein! Türen werden aufgestoßen, mein Vater wirft Koffer, Taschen, Jacke, Schuhe weit von sich, fliegt uns entgegen. Wir stürzen übereinander, lachen verkrampft und angestrengt. Es regnet Küsse, ich drehe den Kopf zur Seite. Hoffentlich fallen ihm meine verschwollenen Lippen nicht auf.
Babbo bringt uns Geschenke mit. Er klappt den Deckel einer purpurroten Schachtel auf: Sie sieht aus wie ein großes Buch. Darin liegen auf Seidenpapier dreißig Zigaretten, jede in einer anderen Farbe mit goldenem Filter. »Mein Püppchen, da kannst du zu jedem Kleid die passende Zigarette rauchen!«, schwärmt er. Das ist der Beginn meiner jahrelangen Nikotinsucht.
Natürlich ist er völlig aufgebracht wegen meiner Lippen, glaubt mir aber meine Ausrede. Dafür ist meine Stiefmutter das Ziel seines Zorns: Sie hätte nicht das ganze Geld in ein paar Tagen ausgeben dürfen! Sie verteidigt sich, die beiden brüllen sich an, der Streit läuft völlig aus dem Ruder. Biggi schließt sich mit Nastassja im Kinderzimmer ein. Er tritt die ganze Nacht gegen die Tür, keine Reaktion. Als er merkt, dass er nicht weiterkommt, rutscht er auf Knien vor mir, beschwört mich, sie zum Aufmachen zu bewegen. Er wird mir die ganze Welt dafür kaufen – wieder mal. Es widert mich an, aber ich muss mich vor die Tür kauern, bitten und flehen, er hockt neben mir und überwacht mich.
Später, nachdem sich die Tür geöffnet hat, er Biggi zum Frieden gezwungen hat und sie irgendwann schlafen gegangen sind, wenn alles still ist, dann sehe ich sein Gesicht im Dunkeln näher kommen und höre seine Stimme: »Es ist das Natürlichste auf der Welt! Aber du darfst mit niemandem darüber sprechen, hörst du! Niemals! Das ist unser Geheimnis! Mit niemandem! Niemals, sonst komme ich ins Gefängnis!«
Er lässt keine Gelegenheit aus: wenn die anderen im Nebenzimmer spielen; wenn sie in der Badewanne liegen; wenn Biggi und meine Schwester schlafen.
Die Ferien sind schon seit zwei Wochen vorbei, und ich bin immer noch in Rom. Mein Vater dreht in Cinecittà. Endlich ist er beschäftigt genug und lässt mich gehen. Biggi bringt mich mit Nastja und Chauffeur zum Flughafen. Jetzt trägt er wieder die Livree mit Goldknöpfen und die Mütze. Er wirkt gedemütigt. Ich habe kein Mitleid mit ihm.
Die Maschine füllt sich, überall Menschen um mich herum, die sich setzen, näher rücken, ich fühle mich beengt. Die Stewardessen beginnen die Türen zu verriegeln. Ich bin eingeschlossen. Plötzlich stellt sich die Gewissheit ein: Wenn ich sitzen bleibe, wird dieses Flugzeug abstürzen. Ich muss raus! Auf der Stelle!
Tränen laufen mir übers Gesicht, versickern im Stoff. Ich springe auf, steige über Passagiere, rufe um Hilfe, Panik fasst mich an, Todesangst. Stewardessen bemühen sich liebevoll um mich, wollen mich beruhigen: »Wir sind doch alle da!« Es nützt nichts, die »Gewissheit« zwingt mich auszusteigen, das Flugpersonal muss mich zurückbringen. Die Stewardessen öffnen die Riegel, die Gangway wird wieder herangefahren, eine Hand schiebt mich nach draußen. An der Luft habe ich das Gefühl, dem Tod noch einmal entronnen zu sein. Man bringt mich zurück in die Halle, ich fahre mit dem Taxi nach Hause. Biggi glaubt einem Geist gegenüberzustehen, als ich vor der Tür stehe. Sie hat mich doch vor einer Stunde einsteigen sehen.
Am
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