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Kindermund (German Edition)

Kindermund (German Edition)

Titel: Kindermund (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pola Kinski
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Nachmittag fahre ich mit dem Chauffeur, mit Biggi und meiner Schwester in die Innenstadt, frage bei Lufthansa nach, ob die Maschine sicher in München gelandet sei. Etwas schnippisch fragt die Dame hinter dem Schreibtisch zurück: »Selbstverständlich, warum denn nicht?«
    Im Reisebüro kaufen wir eine Eisenbahnfahrkarte für den nächsten Tag: Schlafwagen, 1. Klasse. Eine Kabine mit Bad für mich allein. Ich werde mir Essen bestellen, mich ins Bett legen, essen und lesen. Ein Luxus!
    Nachts, als alle schlafen, holen mich die peinigenden Finger meines Vaters von weit her. Ich stammle, kratze die Wörter zusammen: »Bitte das nächste Mal, bitte, bitte!«
    Im Schlafwagenabteil richte ich mich gemütlich ein, stelle die Zahnbürste in den Becher am Waschbecken, arrangiere Parfümflakons, Seidenbänder, ein paar Bücher auf dem Tisch. Ich drapiere einige Lieblingskleidungsstücke wie zufällig hingeworfen auf meinem Bett – so wie ich es bei meinem Vater gesehen habe.
    Der Zug verlässt den Bahnhof, ich atme tief durch, hinter meinen geschlossenen Augen dreht sich die Welt. Plötzlich schießt eine Fantasie dazwischen: Was ist, wenn der Zugführer ohnmächtig wird? Rasen wir dann führerlos in den Abgrund? Die Tür werde ich auf keinen Fall von innen verriegeln, vielleicht klemmt sie, und ich komme nicht mehr raus hier. Ich muss den Schaffner suchen, ihm meine Befürchtungen mitteilen. Ich laufe durch den Waggon, an allen Kabinen vorbei. Die meisten Türen sind geschlossen, nur wenige stehen offen. Ich werfe einen Blick hinein. Aber der Schaffner ist nicht zu sehen. Ich laufe weiter durch die Waggons. Ich beeile mich, durch die quietschenden, wackligen Verbindungsteile mit den klemmenden Türen zu kommen, halte die Luft an. Was, wenn der Zug jetzt an dieser Stelle auseinanderbricht? Da kommt mir der kleine Mann in Uniform entgegen, er schiebt einen Getränkewagen vor sich her.Ich habe keine andere Wahl, ich muss vor ihm den ganzen Weg zurücklaufen. Als ich vor meiner Kabine stehe, habe ich mich wieder beruhigt. Ich weiß, ich kann im Zug bleiben, ich werde in München ankommen.

D ie Atmosphäre in München ist zunehmend vergiftet. Nach jedem Aufenthalt in Rom wird die Kluft zwischen Mama, Heinrich und mir größer. Mama ist mir fremd geworden. Ihre Ablehnung, ihre Feindseligkeit schmerzen trotzdem. Sie spürt die Verbindung zwischen meinem Vater und mir. Wenn wir uns begegnen, sieht sie mich an, als könne sie an meinem Äußeren etwas ablesen. Einmal starrt sie mich lange an. Dann sagt sie: »Du bist eklig!«
    Mein Vater ruft mich an, stöhnt, wie sehr er sich nach mir sehnt, und fragt, ob ich Geld brauche, obwohl er mir vor der Abreise große Scheine in die Tasche gesteckt hat. Ich sage ihm, dass ich nichts mehr habe, und er verspricht, einen großen Betrag in einem Luftpostkuvert zu schicken. Ich stelle mir vor, das Geld mit meiner Freundin auf den Kopf zu hauen. Als es nach einer Woche immer noch nicht angekommen ist, frage ich bei Mama und Heinrich nach, ob sie einen Luftpost-Expressumschlag gesehen hätten. Heinrich erklärt mir kühl, dass er ihn aufgemacht und das Geld an sich genommen habe. Mein Vater würde noch Alimente schulden.
    Ich kann es nicht fassen, knalle die Tür, rufe sofort in Rom an und petze schluchzend, dass Heinrich das Geld gestohlen hat. Mein Vater beruhigt mich. In Zukunft werde er diese Briefe nur noch an die Adresse meiner Freundin schicken.
    Der Spiegel ist ein fester Bestandteil meines Tagesablaufs geworden. Ich betrachte mich prüfend von oben bis unten, registriere jede kleine Veränderung, schiebe meine Hüften von links nach rechts. Drehe mich um und schaue über meine Schulter. Ich finde mich hübsch. Dann bringe ich meine Puppenkinder ins Bett.
    Nachts verzweifle ich über dem Gedanken, sterben zu müssen. Ich fürchte mich vor dem Tod, vor dem Nichts, vorBestrafung, vor Gott. Einfach vergehen, weg sein, das kann ich mir nicht vorstellen. Und mich quält die Gewissheit, schuld zu sein an all dem Schlimmen, das auf der Welt geschieht. Das Flugzeug wäre abgestürzt, wenn ich drin sitzen geblieben wäre, das weiß ich genau.

D ie Spannung zwischen Mama, Heinrich und mir steigert sich zur Feindseligkeit. Beide wollen oder können mein Benehmen nicht verstehen, deuten es als reine Renitenz. Ich werde zunehmend unverschämt, beschimpfe sie als Spießer und Arschlöcher, lasse mir nichts mehr vorschreiben oder antworte einfach nicht. Ich weiß, dass ich sie mit meinem Schweigen zur

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