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Kindermund (German Edition)

Kindermund (German Edition)

Titel: Kindermund (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pola Kinski
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mich gegen ihn. Er ist stärker. Er kniet auf meinen Armen, presst seine Hand auf mein Gesicht. Meine Kraft schwindet unter ihm. Im Badezimmer höre ich meine Stiefmutter in der Wanne plantschen, sie pfeift ein Lied. Mir wird übel. Ich bin schuld! Was er mit mir macht, darf er nur mit ihr tun. Die Schmerzen werden stärker. Jetzt höre ich kein Plantschen, kein Pfeifen mehr. Die Welt ist stumm. Ich spüre mich nicht mehr.
    Ich stehe am Ufer eines Flusses. Ein Holzkahn ist an einem Baumstamm angebunden. Er schaukelt im Wasser. Ich steige hinein. Da löst sich der Strick, der Kahn wird mitgerissen, trudelt wie eine Nussschale dem Abgrund entgegen. Die Strudel verschlucken das Boot mit mir.
    Ich erwache von meinem eigenen Schrei. Es ist heiß, das Laken ist klatschnass. Allmählich schwimme ich an die Oberfläche. Da höre ich ein Trällern: »Buona mattina, tesoro!« Ich blinzle und schaue in ein lachendes Harlekinsgesicht: lustige Augen, weiße lange Haare und weit auseinanderstehende Vorderzähne. Das zierliche Männlein balanciert ein Tablett auf einer Hand, dreht es nach rechts, dann nach links und stellt es schließlich auf dem Tisch neben mir ab. In einer goldenen Schale duftet Kaffee, daneben mit rosafarbenem Zucker bestäubte Biskuits, Brötchen und Schälchen mit Marmelade.
    »Buon appetito«, wünscht er, dann nimmt er Anlauf zum Fenster, rafft den Vorhang auf die Arme und wirft ihn mit Schwung auseinander – fast drückt ihn das Gewicht zu Boden. Das Männlein zwinkert mir verschmitzt zu und trippelthinaus. Mir fällt ein, dass mein Vater etwas von einem neuen Diener erzählt hat.
    Die Biskuits reizen mich. Ich tauche eines in den Kaffee, nicht zu lange, damit es nicht abbricht und sich in der Flüssigkeit auflöst. Dann lasse ich es auf der Zunge zergehen. Jetzt untersuche ich das Brötchen. Es hat die Form eines Balles, der rundherum eingeritzt ist, darauf sitzt ein Teigdeckel. Mit dem Zeigefinger bohre ich hinein und biege ihn auf, um zu sehen, was drin ist: Das Ding ist völlig hohl. Es langweilt mich, und ich lasse mich zurück in die Spitzenkissen fallen. Meine Gedanken kreisen um den Diener. Nikolai heißt er, hat mein Vater gestern gesagt und: »Früher war er Künstler beim Varieté. Außerdem ist er schwul.« Ich glaube, ich mag ihn.
    Von draußen ist geschäftiges Klappern zu hören und ein Gewirr italienischer Stimmen. Ich verstehe kein Wort. Vielleicht Lieferanten? Jetzt fällt mir wieder ein: Heute Abend lädt mein Vater zu einer Party, ein paar Freunde werden kommen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass mein Vater auch nur einen einzigen Freund hat.
    Mein Schwesterlein krabbelt zu mir unter die Decke. Ich habe gar nicht bemerkt, dass sie hereingekommen ist. Wir kuscheln und sind froh, dass wir uns haben. Irgendwann erzählt sie mir, dass Papa und Mama in die Stadt gefahren seien, um etwas zu besorgen, und dass wir uns baden und anziehen müssen. Mit einem Satz springe ich auf, ziehe Nastja aus den Decken, tobe mit ihr durch die Wohnung. Herrlich, dass unser Vater nicht da ist! Wir hopsen ausgelassen von Zimmer zu Zimmer, singen und jubeln, bis wir völlig außer Atem zu Boden sinken. Nikolai flattert besorgt herbei, hilft uns auf die Beine, die immer noch schwach vom Lachen sind. Es ist schon lange nach Mittag, wir müssen uns jetzt unbedingt herausputzen! Bestimmt kommen sie gleich zurück, und dann platzt die Blase aus Zorn und Gebrüll.
    Kurz darauf liege ich unter einem Gebirge aus Schaum,aus dem nur meine Nasenspitze herausschaut. Aus goldenen Drachenköpfen sprudelt heißes Wasser. Wohlig drehe ich mich nach links, nach rechts, fühle mich schwerelos, da höre ich ihn. Die Stimme kommt näher – jetzt ist er in meinem Zimmer. Ich mache den Hals ganz lang und lausche angestrengt in seine Richtung, höre das Rascheln von Papier und das Knacken von Kartons. Ich traue mich kaum zu atmen, denn er darf mich auf keinen Fall in der Wanne finden. Gott sei Dank entfernen sich seine Schritte wieder. Hals über Kopf hechte ich aus dem Wasser, eine beachtliche Welle schwappt auf die Fliesen, trockne mich kaum ab und werfe mir einen Bademantel über, den ich fest verknote. So wage ich mich in mein Zimmer. Auf dem von Nikolai gemachten Bett liegen Spitzenhemdchen mit dünnen Trägern, Schlüpfer, Kniestrümpfe und Kleider in zarten Farben. Engelskleider! Aufgereiht am Boden davor Riemchenschuhe in Rosa, Rot, Weiß, Dunkelblau und Dunkelgrün. Ohne zu wählen, fische ich nach Unterwäsche und

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