Kindermund (German Edition)
Strümpfen und kleide mich in großer Eile an. Plötzlich steht mein Vater da: »Mein Püppchen, da du nichts zum Anziehen hast, habe ich dir schnell ein paar Kleidchen ausgesucht. Morgen fahren wir in die Stadt, und ich kaufe dir alles andere: Mäntel, Schuhe, Taschen. Du bist meine Prinzessin! Jetzt zieh das hier an!«
Der Gedanke an Boutiquen lässt mich erschauern: anziehen, ausziehen, stillstehen mit ausgestreckten Armen. Schneiderinnen, die um mich herumspringen, um alles kleiner, enger, kürzer zu machen, die den Stoff unter den Befehlen meines Vaters immer fester um meinen Körper zurren, bis ich kaum mehr Luft bekomme. Als Krönung ein verkrampftes Mahl in einem »berühmten« Restaurant, das wir meistens noch vor dem ersten Bissen im Gänsemarsch verlassen müssen. Getrieben vom ordinären Gebrüll meines Vaters. Begleitet von den fassungslosen Blicken der anderen Gäste.
Mein Vater wirft mir ein schleierähnliches rosa Fähnchen über den Kopf. Der Anblick scheint ihm zu gefallen, allerdings: »Viel zu groß, es schlägt ja überall Falten!« Er rutscht auf Knien um mich herum. Geschickt zupft und schiebt er, bindet und steckt. Mit einem eng geschnürten Seidenband wird alles passend gemacht. Er verbringt Stunden damit, mich herauszuputzen, jedenfalls kommt es mir so vor. Dann wird jeder noch so winzige Fussel entfernt, zum Schluss bürstet er meine langen Haare, als würde er dafür bezahlt. Gleich kann ich mich nicht mehr beherrschen! Ich werde schreien, schreien. In meiner Brust ist eine Schar winziger Vögel eingesperrt. Sie picken sich von innen nach außen in die Freiheit. Er befestigt eine Rose auf meinem Kopf. Biggi und meine Schwester sehen genauso aus.
Die Partygäste haben sich schon im Esszimmer versammelt. Es sind nur fünf Personen: vier Frauen und ein Mann, der Anwalt meines Vaters. Seine Gattin samt Schwester und Freundin und Lotte Moor, eine Schauspielerin. Schüchtern treten wir auf, werden vorgeführt, begafft. Man schmeichelt: »Oh, wie süß, wie entzückend!« Ich will auf der Stelle unsichtbar sein. Mein Vater lächelt schief. Seine Oberlippe zuckt mehrmals – es sieht komisch aus.
Die Marmortafel präsentiert Salatschüsseln, gefüllt mit russischem und persischem Kaviar, Platten mit Hummer und Langusten, Tellertürme, von denen Trauben wie von Bäumen hängen. Die Blicke der Gäste gelten nun nicht mehr uns, sondern dem opulenten Tisch. Wie die Vampire stürzen sie sich gierig auf alles Essbare. Nikolai reicht Champagner in roten Kelchen. Es sieht aus, als würde er Blut servieren. Als er sich Lotte Moor zuwendet, erstarrt er: Diese streift sich gerade lasziv ihre Langhaarlockenpracht vom Kopf und sieht ihm dabei herausfordernd in die Augen. Dann greift sie nach einem Glas, trinkt es in einem Zug leer, streicht sich mehrmals über den kahlen Schädel, während sie aufreizend ihre knabenhaften Hüften kreisen lässt. Ihr Opfer wird verlegen, sie fixiert seinen Blick. Mein Vater, dem dies nichtentgeht, lächelt teuflisch. Er bietet auch Nikolai Champagner an, nötigt ihn zu trinken. Dann zieht er ihn beiseite und erzählt ihm, Lotte Moor sei in Wirklichkeit ein Mann und würde sich nur als Frau verkleiden. Der Diener sieht ihn unsicher an. Mein Vater klatscht in die Hände und verkündet laut und voller Vorfreude: »Nikolai war früher beim Varieté und wird jetzt für uns tanzen!« Der kleine Mann sinkt in sich zusammen, fleht, er müsse zurück in die Küche. Doch sein Herr kennt kein Erbarmen, er zerrt ihn, begleitet vom Jubel der Leute, in die Mitte des Raumes und befiehlt ihm, zu tanzen. Nikolai schämt sich, wird rot und gehorcht. Linkisch beginnt er sich zu drehen, hüpft auf einem Bein, dreht sich schneller und wirft heimlich scheue Blicke zu Lotte Moor. Die lockt ihn, tanzt auf ihn zu. Verwirrt vollführt er immer gewagtere Pirouetten. Die Gesellschaft kreischt hysterisch und biegt sich vor Lachen. Wie ein Brummkreisel rast er – dann bricht er zusammen. Der dekadente Haufen verstummt. Jemand holt Wasser. Langsam erholt sich der kleine Mann und versucht wieder Haltung anzunehmen. Er wird zu Bett geschickt. Die Gäste brechen eilig auf.
Nachdem der Letzte gegangen ist, stellen sich Biggi, Nastja und ich nebeneinander auf zu einem Ritual: Wir strecken die Arme weit nach vorne, und der Gebieter desinfiziert unsere Hände mit parfümgetränkten Seidentüchern, die er einem Zauberer gleich aus seinen Hosentaschen zieht. Das macht er jedes Mal, wenn wir Kontakt zu anderen
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