Kindermund (German Edition)
Menschen hatten. Dabei ruft er: »Iiiiii-gitttttttt, wie eklig!« Heute ist er besonders aufgedreht, kann sich gar nicht beruhigen. Er lacht immer noch über Nikolai und wie er ihn zum Gespött der Leute gemacht hat. Ich hasse ihn dafür. Zitternd vor Zorn stürze ich ins Klo, reiße mein Kleid auf einer Seite von oben bis unten auf. Soll er mich doch morgen anschreien, es ist mir egal. Er wird sich hüten, dies zu tun! Manchmal verspüre ich eine Ahnung von Macht.
I ch nenne es die Parade der Limousinen. Täglich fahren Luxusautos in den Park der Villa Cassia Antica, damit mein Vater sie kauft. Sie glänzen um die Wette. Ich glaube, man hat sogar ihre Reifen poliert. Und während ein Autohändler im Designeranzug und mit zurückgeölten Haaren alle Vorteile anpreist, zeigen sich die Wagen von ihrer besten Seite. Maserati, Ferrari, Jaguar und verschiedene Jahrgänge von Rolls-Royce. Einmal rollt ein goldener Hut vor die Fenster. Es wird dunkel im Zimmer. Ein Rolls-Royce Phantom. Mein Vater springt um ihn herum wie ein Bub um den Weihnachtsbaum, dessen sehnlichster Wunsch in Erfüllung gegangen ist. Er fragt uns ständig, wie wir ihn finden, erzählt uns, dass die Königin von England sich in genau dem gleichen chauffieren lässt, kauft aber dann doch einen anderen. Eigentlich sind mir Autos egal, aber im Rolls-Royce in den Ledersesseln zu hängen, so dass ich gerade noch in die offenen Mäuler der Menschen vor dem Fenster schauen kann, genieße ich dann doch. In solchen Momenten fühle ich mich wichtig.
Die Mahlzeiten in Gegenwart meines Vaters sind Folter. Die Tafel ist etwa vier Meter lang und anderthalb Meter breit. Wir speisen auf blutrotem Marmor. Mein Vater hat eine Sitzordnung verfügt und verlangt feine Tischmanieren: Er sitzt an einem Kopfende, ihm gegenüber meine Schwester. So hat er sie unter Kontrolle, und ihm entgeht keine ihrer Bewegungen. Zu seiner Linken an der Längsseite befiehlt er mir, Platz zu nehmen. Biggi gegenüber. Wir müssen uns alle weiße Stoffservietten um den Hals binden, so groß wie Tischdecken. Ich habe nie Hunger, im Gegenteil, mein Hals ist zugeschnürt. Aber ich muss wenigstens so tun, als würde ich essen. Mindestens fünfmal während jeder Mahlzeitstürzt mein Vater wutentbrannt zu meiner Schwester. Die Kleine duckt sich vor Angst. Er brüllt: »Das ist doch nicht zu fassen, deine Haare hängen schon wieder ins Essen!« Er zerrt an den Enden der Serviette. Ich höre auf zu atmen, erwürgt er sie jetzt? Ihr Schreien beruhigt mich, wenigstens bekommt sie noch Luft.
Während der gesamten Mahlzeit beobachtet er unsere Körperhaltung, unsere Hände, wie wir mit dem Besteck hantieren. Ihm entgeht keine Regung, nichts. Heute bin ich sein Opfer: »Du hältst Messer und Gabel wie ein Prolet! So weit vorne, so verkrampft! Man legt sie locker in die Hände, fasst sie weit hinten! So!« Er macht es vor. Es sieht affig und lachhaft aus, aber mir ist zum Weinen. Immer wieder muss ich probieren, nie ist er zufrieden. Ich spüre den Weg der Schweißtropfen auf meinem Rücken. »Halte dich gerade!« Meine Schultern werden grob nach hinten gerissen, ich verbiege mich, soweit ich kann. »Schon wieder! Man sollte dich gegen die Wand schlagen! Wieso beugst du dich denn zur Gabel? So fressen nur Proleten! Man führt die Gabel zum Mund und nicht den Mund zur Gabel! Du machst das jetzt so lange, bis du es kannst!«
Draußen ist es dunkel geworden. Meine Bewegungen spiegeln sich im Glas der Terrassentüren. Ich bemühe mich alles richtig zu machen, balanciere die wackeligen Speisen auf der Gabel. Die Strecke zum Mund ist weit. Auf halbem Weg ein kurzes Zittern, und der Brocken fällt zurück auf den Teller. Ich höre auf zu atmen. »Von vorne!« Der Raum verschwimmt hinter meinen Tränen.
Jaulen, Kratzen an der Terrassentür. »Halt’s Maul!«, schnauzt mein Vater. Das Jaulen wird zum Wolfsgeheul. Ängstlich wage ich einen Blick in seine Richtung. Die Zornesader quillt auf der Mitte der Stirn. Ich wünsche mir, dass sie endlich platzt! Ein Stuhl fällt um. Der Hexenkopf spuckt Galle, ein Sprühregen von Speichel trifft mich. Ich trockne meine Wange mit der Serviette. Mein Vater jagt in RichtungTerrassentür, flucht: »Dieses blöde Schwein soll die Schnauze halten!« Er wird den armen Hund schlagen, ich weiß es! Dann ein ohrenbetäubender Knall, ein Schrei. Mein Vater torkelt, wankt, stolpert. Hat jemand auf ihn geschossen? Er hält sich mit beiden Händen den Kopf, stürzt an uns vorbei aus dem
Weitere Kostenlose Bücher