Kindermund (German Edition)
Stück mehr hineinpasst. Trotzdem habe ich keinen Spaß daran, mir etwas Schönes auszusuchen, »mit den Stoffen zu spielen«, wie mein Vater immer sagt. Ich greife blind nach irgendeinem Fetzen und schlüpfe hinein. Aber manchmal erwischt er mich vorher. Dann begrapscht er mich. Ich versuche mich ihm zu entwinden, erfinde Ausreden, stürme ins Klo, sperre mich ein, horche hinter der Tür, bete, dass er sich trollt. Vor der Laune, die mich anschließend trifft, fürchte ich mich. Wenn seine Mundwinkel bis zum Knie rutschen, wenn er mich spüren lässt, dass ich schuldig bin. Schuld daran, dass er enttäuscht und gekränkt ist. Dann muss ich Buße tun. Es kostet mich unermessliche Anstrengung, ihn zu besänftigen. Die Diva lässt sich bitten! Ich muss um ihn buhlen: ob er einen Spaziergang mit mir machen möchte im Park, ob er vielleicht Lust hat, ans Meer zu fahren? Irgendwann zeigt er sich gnädig und lässt sich dazu herab, das Nötigste mit mir zu besprechen. Aber er bleibt wortkarg und abweisend. Dieser Liebesentzug ist unerträglich. So bin ich ihm gefügig, mache, was er will. Nur damit er mich wieder liebt.
Die Tage ziehen sich wie Kaugummi. Tagsüber fährt mein Vater mit mir in die Stadt, um mich mit noch mehr Plunder einzudecken. Nachmittags muss ich Mittagsschlaf mit ihmhalten, gegen Abend verdrückt er sich, sagt nicht, wohin er geht. Ich bin mir sicher, dass Weiber ihn umtreiben. Ich verbringe die Abende mit dem Nachtwächter. Nachts kommt er zurück, macht sich über mich her, egal, ob ich wach bin oder schlafe, ob ich weine oder ihn anflehe, mich in Ruhe zu lassen. Ob er mich zerstört – es interessiert ihn nicht. In seiner Gedanken-und Gefühlswelt existiert ausschließlich er, und er gefällt sich in der Vorstellung, mich zu lieben.
Nach etwa zwei Wochen halte ich es nicht mehr aus. Ich klage ihm, wie groß die Sehnsucht nach meiner Schwester sei, wie gerne ich sie in Berlin besuchen möchte, wie lange ich sie nicht gesehen habe. Ganz anders als sonst scheint er nichts dagegen zu haben, dass ich abreise. Ich wusste es, er hat was vor. Nachdem das Ticket bestellt und klar ist, dass ich morgen fliege, gibt er der kleinen Frau und ihrem Mann Anweisungen, die Möbel im Haus umzustellen. Bestimmt zieht eine neue Frau bei ihm ein, sobald ich im Flugzeug sitze.
A usgestattet mit Koffern voller Klamotten, einer Uhr, die ich gegen einen Sportwagen tauschen könnte, und mehreren tausend Mark für mich allein in der Tasche, klingle ich an Biggis Tür in Berlin. Wir drei fallen uns in die Arme. Meine Schwester lässt meine Hand nicht los, ich ihre auch nicht.
Ich glaube, Biggi freut sich auch, mich zu sehen, vielleicht noch ein bisschen mehr über das Kuvert mit Geld, das ich ihr von meinem Vater überreiche. Egal, Hauptsache, ich bin der Folter und der Horrorkirche entronnen. Der Druck lässt nach, mein Herz pocht nicht mehr so wild. Bei Babbo erlebte ich meine Stiefmutter angespannt, verkrampft. Hier, in ihrer Wohnung, wirken sie und Nastja fröhlich: drei Zimmer, Küche, Bad und als Krönung eine Dachterrasse.
Ich erkenne viele Gegenstände aus Rom wieder. Sie müssen einen Möbelwagen ins Flugzeug gestopft haben. Biggi erzählt mir, wie sie am Flughafen stand: mit Kind, Hund, zwölf Koffern, Kisten und obendrauf ein Käfig mit »Grauen«, dem Kater.
Am ersten Abend zeigt mir Biggi Berlin: die Disco, in der sie tanzte, als sie siebzehn war, die Cafés, die Eisdielen … Wir gehen oft gemeinsam weg. In Kreuzberg in einer düsteren, total verdreckten Ecke entdecken wir eines Nachts eine Tür: vollgeschmiert, kaputt und sehr geheimnisvoll. Ein paar Stufen führen zu ihr hoch, dahinter lockt Jim Morrisons Stimme: When the music’s over und Strange Days . Mein Herz pocht laut, wir wagen uns hinein. Ein winziger Raum voller Menschen und dickem Qualm, es riecht nach Haschisch. Wir sehen kaum etwas. In roten, gelben, grünen Nebelschwaden zucken scherenschnittartige Gestalten vor den Kaleidoskopbildern, die ein Projektor an die Wand wirft. Die Leute schieben, drücken, quetschen. Ichwerde panisch, will wieder raus, aber das geht jetzt nicht, die Menge drängt in Richtung Klo. Egal, Hauptsache Luft! In dem engen Flur wanken uns Schlafwandler entgegen, Biggi sagt, es seien Fixer. Einer fällt mir in die Arme. Ich versuche ihn zu halten, aber er ist zu schwer, reißt mich mit sich zu Boden. Biggi hilft mir, wir kämpfen uns zurück in den Raum zu dem einzigen freien Platz an der meterlangen Bank, die die Wände
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