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Kindermund (German Edition)

Kindermund (German Edition)

Titel: Kindermund (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pola Kinski
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säumt. Vor uns wogt die vollgekiffte Menge. Ich schließe die Augen, die Musik der Doors fließt durch mich hindurch. Der Raum, die Menschen um mich herum, das Licht, die Musik werden wattig, unwirklich. Ich bewege meine Finger, kneife mich in die Backe. Sie fühlt sich taub an. Ich versuche tief zu atmen, es geht nicht. Eine kalte Hand packt mich am Nacken, ich springe hoch, muss raus. Biggi bahnt mir einen Weg nach draußen. Nach ein paar Minuten habe ich mich erholt, es zieht uns wieder rein. Dieser Ort ist aufregend und bedrohlich. Da die Luft nur aus Haschischqualm besteht, bin ich wahrscheinlich bekifft. Zum ersten Mal in meinem Leben. Auf dem Heimweg finden wir jedes Auto, jede Ampel wahnsinnig komisch, wir können uns vor Kichern kaum aufrecht halten, finden aber immerhin den Weg nach Hause.
    Von da an ziehe ich Abend für Abend allein durch die Stadt. Wie im Fieber will ich alles sehen, alles erleben, alles aufsaugen. Einmal nimmt mich jemand mit in einen Schwulenclub in der Nähe des Kurfürstendamms. Er wird zu meinem Wohnzimmer. Kaum macht er auf, sitze ich schon an der Bar. Der Barkeeper Horst wird bald zu meinem großen Bruder. Die meiste Zeit tanze ich allein nach den Doors, James Brown, Janis Joplin … Wenn ich müde werde, setze ich mich zu Horst, lege meinen Kopf auf die Bar und schlafe ein. Morgens, gegen sechs Uhr, weckt er mich, und wir gehen zusammen mit den Kellnern ins Café Möhring zum Frühstücken. Danach nehme ich ein Taxi zu Biggi, schleiche mich auf die Terrasse, schaue über Kamine und Dächerin den Morgenhimmel. Ich atme die Frische, suche mir einen Liegestuhl aus, krieche unter die Wolldecke und schlafe ein.

I ch bin zurück in München. Die Stadt lockt mit Freiheit, Disco, Jungs. Der jüngste Bruder meiner Mutter, der mich als Kleinkind immer gequält hat, hat mich bei sich aufgenommen. Etwas Besseres, als mit sechzehn Jahren ein Zimmer mit eigenem Bad und separatem Eingang zu bewohnen, gibt es nicht. Ich habe ihm die Quälereien verziehen. Er ist mein Lieblingsonkel geworden, weil er großzügig, jung und cool ist, mich mit in die Discos nimmt. Leider hat Mama das Zimmer hässlich und billig eingerichtet: Kaufhausbett, Tisch, Stuhl. Am schlimmsten ist der Plastikschrank mit Reißverschluss und Blumenmuster in Tchibofarben. Den muss sie in der Obdachlosenunterkunft gefunden haben. Der Plunder kann nur ein paar Pfennige gekostet haben. Mein Vater hat sich die Einrichtung bestimmt etwas anders vorgestellt, als er ihr dafür Geld geschickt hat. Trotzdem fühle ich mich wohl in meinem ersten eigenen Reich. Und ich kann kommen und gehen, wann ich will.
    Ich wohne jetzt am äußersten Ende von Schwabing, Richtung Nymphenburg. Der Weg in die Stadt ist lang, ich muss mehrfach umsteigen, aber das stört mich nicht. Ich putze mich mit den Kleidern aus Rom raus und flaniere durch Schwabing. Oft treffe ich meine Freundin Patrizia. Wir stöckeln die Leopoldstraße auf und ab, vorbei an den Cafés, und genießen die Blicke der Männer, die dort herumlungern und auf junge Mädchen warten. Später nehmen uns die Typen mit in die Disco. Wenn ich Glück habe, erwische ich die letzte Straßenbahn um halb eins. Meist fläze ich in der letzten Reihe.
    Oft bin ich der einzige Fahrgast. Ich flirte mit meinem Spiegelbild oder presse das Gesicht an die Scheibe, um etwas von der vorbeihuschenden Stadt zu erkennen. Der Fahrer jagt nur für mich den Wagen durch die Nacht. Ich lausche dem Rhythmus der ratternden Räder.
    Es kommt vor, dass ich vom Fahrer wachgerüttelt werde. Dann habe ich es nicht bis zum Ende geschafft und bin unterwegs eingeschlafen. Von der Endstation sind es noch zehn Minuten zu Fuß. Ich freue mich immer, nach Hause zu kommen.
    Eines Nachts empfängt mich mein Onkel an der Tür: »Dein Vater ruft seit etwa acht Stunden im Abstand von fünf Minuten an. Er brüllt mich an, will wissen, wo du dich rumtreibst, warum du um diese Zeit nicht zu Hause bist, was mir einfällt, dich überhaupt allein aus dem Haus zu lassen. Mittlerweile tobt er.«
    In diesem Moment klingelt das Telefon. Mein Onkel ruft: »Für dich, meine Kleine! Diesmal darfst du rangehen!« Mir ist mulmig. Das Klingeln wird lauter, ungeduldiger. Als ich endlich abhebe, schreit mir mein Vater ins Ohr. Ich zucke zusammen und lege den Hörer neben den Apparat, es ist unmöglich, ihn ans Ohr zu halten, das Trommelfell würde platzen. Ich kann Babbo bis auf den Balkon hören. Er keift, er kreischt, er brüllt, ich verstehe kein

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