Kindermund (German Edition)
nehme ich zwei Stufen auf einmal die Treppe des zweistöckigen Bürohauses hoch. Dann klopfe ich an ein Fenster, auf dem »Carabinieri« steht. Ein Mann in blauer Uniform und Stiefeln über den Hosen erscheint breitbeinig in der Tür. Er sieht offenbar sofort, dass ich Hilfe brauche, und bittet mich in sein Büro. Weil ich so aufgeregt bin, bringe ich kaum einen zusammenhängenden Satz heraus. Der Polizist schreibt eifrig mit. Als ich nichts mehr sage und ihn hilfesuchend anschaue, geht er um seinen Schreibtisch herum und legt mir beruhigend seine Hand auf die Schulter. Ich senke den Kopf. Erst jetzt bemerke ich, dass die ersten drei Knöpfe meiner Bluse offen stehen. Wie peinlich! So stand ich also an der Autobahn, als mich der Scheißkerl mitnahm: halb nackt, als wäre ich gerade aus dem Bett eines anderen gekrochen. Schnell versuche ich, mein Dekolleté mit beiden Händen zu verdecken. Aber der Uniformierte kommt mir zuvor. Er lässt das Kreuz, das ichan einer Kette um den Hals trage, durch seine Finger gleiten. Die andere Hand schiebt sich in meinen Ausschnitt. Ich ducke mich unter seinen Armen weg und stürme zur Tür hinaus, die Treppe hinunter zu den Autos, die in Schlangen an der Schranke der Mautstation warten.
In meinem Kopf schwappt ein zäher Brei. Wie soll ich nach Rom kommen? Wem kann ich überhaupt noch trauen? Aus einem Minicooper dröhnt Discomusik, so laut, dass ich das Gefühl habe, gleich explodiert der Wagen. Köpfe wippen aus den offenen Fenstern im Rhythmus der Musik, Arme winken, Hände schlagen im Takt aufs Blech. Ich kann es kaum glauben: Drei Jungen und zwei Mädchen finden Platz in dieser winzigen Kiste. Sie rufen mir zu: »Ey, ragazza, wo willst du hin?«
»Nach Rom!«
»Ah, nach Rom, wir auch, komm, steig ein!« Ich verstehe nicht. Wie soll ich in diese Pillendose passen? Die bricht doch jetzt schon auseinander! Einer stößt eine Tür auf. »Jetzt komm, du hast noch Platz!« Gesichter strahlen mich erwartungsvoll an, Hände winken. Ein Mädchen löst sich vom Beifahrersitz, quetscht sich zu den anderen auf die Rückbank. Sie hat mir Platz gemacht. Ich kann nicht mehr nein sagen und steige ein.
Die Fahrt dauert lange, es ist eng und laut, der Rauch beißt in den Augen, aber ich fühle mich wohl mit diesen Menschen. Wir lachen, wir singen, wir ahmen Leute nach. Manchmal machen wir eine Kaffeepause und spielen Fangen. Ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal so unbeschwert und glücklich war.
Der Minicooper rollt aus, wir sind da. Rasthof Ausfahrt Rom Nord. Alle springen aus der Kiste. Wieder kann ich kaum glauben, dass wir alle da drin gesteckt haben sollen. Stürmische Umarmungen, Telefonnummern werden getauscht. Dann quetschen sie sich wieder zusammen, Türen knallen,die Pillendose braust unter ständigem Hupen davon. »Tanti auguri!« Viele Arme winken über dem kleinen Dach.
Ich stehe noch lange wie festgewachsen an derselben Stelle. Zwar weiß ich, was ich zu tun habe, aber wie ich es anstellen soll, ist mir unklar. Dabei bleibt mir nicht viel Zeit. Morgen Abend wollen mich die anderen wieder einsammeln, aber bis dahin muss ich meinem Vater viel Geld aus der Tasche gezogen haben. Mir ist mulmig, wenn ich an sein Gesicht, seine Reaktion denke. Vielleicht schmeißt er mich ja sofort wieder raus. Dann habe ich keinen Pfennig, um von hier wegzukommen. Wo sie jetzt sind, was sie machen, ich habe keine Ahnung. Sie werden mich bei meinem Vater telefonisch nicht erreichen, und er wird den Anrufer anbrüllen, dass dem der Hörer aus der Hand fällt. Mein Gott, ist das peinlich! Das darf nicht passieren. Ich kratze meinen ganzen Mut zusammen und stapfe auf das graue Gebäude der Raststätte zu. An der Theke des Restaurants wechsle ich den Geldschein in Münzen, bitte um Telefonjetons und frage nach dem Apparat. In der engen Kabine bekomme ich kaum Luft, wahrscheinlich raucht hier drin jeder, ich auch.
Ich suche nach den süßesten Worten für meinen Vater, das ist sehr schwer, weil ich nie weiß, wie er reagieren wird. Mittlerweile sauge ich an der vierten Zigarette. Während ich seine Nummer wähle, sage ich meinen Text laut vor mich her, dann drücke ich wieder auf die Gabel, nein, so nicht!
Ich zünde die nächste Kippe an. »Pronto!«, knarzt die wie üblich schlechtgelaunte Stimme meines Vaters.
»Hallo, hier ist Pola! Ich stehe an einer Autobahnraststätte, Ausfahrt Rom Nord. Kannst du mich bitte abholen?«
»Wie! Was soll das heißen, du stehst an der Autobahn?!«
Ȁh, ja,
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