Kindermund (German Edition)
ich bin mit Leuten, also mit Theaterleuten mitgefahren … wir hatten einen Unfall … die Reifen sind davongerollt … der Bus ist kaputt … ich bin allein weitergefahren …« Ich beiße mir auf die Zunge. Er darf auf keinen Fall erfahren, dass ich in ein fremdes Auto gestiegen bin, wederzu dem Kerl noch zu den jungen Leuten. »Und ich wollte unbedingt zu dir, jetzt bin ich da!« Die letzten Wörter bringe ich nur noch stammelnd hervor.
»Ich hole dich! Wo bist du genau? Bleib dort stehen, bis wir kommen!«
Bis wir kommen. Das heißt, seine Gattin kommt mit. Sie kommt immer mit. Warum kann er mich nicht allein abholen?
Ich verlasse die Telefonzelle, kaufe mir einen Espresso an der Bar. Einige Lastwagenfahrer lungern dort herum, glotzen, sie wirken einsam. Ob sie Frau und Kinder haben?
Ich setze mich draußen auf die Treppe, klammere mich an meine Kaffeetasse, rauche eine nach der anderen und warte. Der Horizont zerfließt honigfarben, der Himmel kommt näher, die Luft wird blau und kalt. Ich warte und friere. Meine Bluse, klebrig von Schweiß und Dreck, ist eher ein Schleier als eine wärmende Hülle, und außer ihr und den Shorts trage ich nichts auf der Haut. Als ich an mir herunterschaue, sehe ich, dass die Knöpfe immer noch offen stehen. Gott sei Dank habe ich es bemerkt, bevor mein Vater mein Aussehen kontrolliert.
Die Lichtreklame der Raststätte sprüht rote Blitze auf den Kies. Ich zähle die Sekunden zwischen ihnen und warte. So lange kann das doch nicht dauern von seiner Wohnung bis hierher! Bestimmt streitet er mit der Gattin.
Lastwagen schnauben, schnaufen vorbei, sie suchen einen Rastplatz für die Nacht. Personenwagen schleichen heran, die Lichter gehen aus. Manchmal steigen einer oder zwei aus, manchmal bleibt es dunkel und still. Ich stelle mir vor, dass sich im Innern ein Paar liebt. Wieder biegt ein Wagen auf den Rastplatz. Schon von weitem weiß ich, dass es mein Vater ist. Ich kann nicht erklären, warum. Vielleicht ist es die Art, wie die Reifen heranrollen, wie die Scheinwerfer blinken, hektisch, immer aggressiv! Natürlich, es ist eine Sportkutsche, ich werde mich also wieder an die Gattin drängen müssen.
Eine Tür fliegt auf, eine zweite öffnet sich zögernd. Mein Vater springt wie ein Panther auf mich los, die Gattin folgt als verlangsamter Schatten. Während des gewohnten Geschlabbers überzieht mich Gänsehaut. Plötzlich stößt er mich von sich, tritt einen Schritt zur Seite und mustert mich von oben bis unten. Jeder Zentimeter meines Körpers, den sein gnadenloser Blick prüft, brennt. Seine keifende Stimme peitscht mir ins Gesicht wie eine Salve Ohrfeigen. »Du siehst aus wie eine Straßennutte! Hast du nichts anderes anzuziehen!? Wo sind deine Kleider, deine Tasche, der Koffer!? Man sollte dich wirklich gegen die Wand knallen! Du hast nichts von dem kapiert, was ich dir beigebracht habe in all den Jahren!«
Ich setze mich auf den Kies und fange hemmungslos an zu weinen. Von einer Sekunde zur anderen ist er ein anderer Mensch. »Komm, mein Liebling, du frierst ja, wir fahren nach Hause!« Die Gattin steht halb hinter ihm, sie hat noch kein einziges Wort zu mir gesagt. Mein Vater hilft mir hoch, zieht mich zu sich heran und küsst mich auf die Stirn, dann öffnet er die Beifahrertür. Er geht ums Auto herum, wird vom Flackern der Lichtreklame erfasst. Jetzt erst kann ich sein Gesicht erkennen. Es ist ausgemergelt, alle Lebendigkeit ist aus ihm gewichen, nur die durchlebten Nächte sind als tiefe Furchen in die Haut gegraben. Die Gattin weht an mir vorbei, nickt mir kaum merklich zu, während kalte Augen Pfeile auf mich abschießen. Sie nimmt betont lasziv Platz, ich bemühe mich zu schrumpfen, soweit es geht. Nach einigen Anläufen gelingt es mir sogar, die Tür ins Schloss schnappen zu lassen.
Die Fahrt über wird nicht gesprochen, ich erfahre nur, dass wir in die neue Dachterrassenwohnung in der Innenstadt fahren und dass wir nicht essen gehen werden, da sie beide neuerdings nur Selbstgekochtes zu sich nehmen, natürlich asiatisch. »We are cleaning our bodies!«, schnalzt mein Vater. »Wir befreien unseren Körper von Giften undSchlacken, die sich im Lauf der Jahre in den Gefäßen abgelagert haben!« Jetzt ist er völlig verrückt geworden. So ein Quatsch aus seinem Mund!
Auch die neue Wohnung ist in einem völlig fremden Stil eingerichtet. Wo sich einst Putten und nackte Weiber wälzten, man versinken konnte in einem Meer von Stoffen, Kissen und Plüsch, schieben
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