Kinderstation
Abnormitätenschau‹ – alle hundert Jahre vor. Alle hundert Jahre, Herr Doktor. Und dann ausgerechnet bei Lehmmachers. Das verpflichtet doch, der Menschheit zu zeigen, was alles möglich ist.«
»Man sollte sie einsperren!« Dr. Julius hieb auf den Tisch. Erna zuckte erschrocken zusammen und rückte zu ihrem Mann. »Gut, daß Sie mich aufklärten, Herr Lehmmacher!« schrie Julius. »Ich werde sofort das Jugendamt einschalten! Ich werde verhindern, daß die Kinder eine Jahrmarktattraktion werden!«
Philipp Lehmmacher war hochrot geworden. Er sah seine Erna an und bemerkte, daß sie von ihm eine männliche Tat erwartete. Also sprang er auf und hieb mit der Faust gleichfalls auf den Tisch.
»Verhindern? Sie? Sind das meine siamesischen Zwillinge oder Ihre, was? Sie wollen mir verbieten, Geld zu verdienen? Ja, wo leben wir denn? Das sind ja Töne aus dem Tausendjährigen Reich! Sie sind ja von gestern, Herr Doktor! In einer Demokratie leben wir, im Grundgesetz steht's ganz deutlich: Persönlichkeitsrecht, Entfaltung der eigenen Persönlichkeit, persönliche Freiheit! Und meine erste Freiheit ist es ja wohl, daß ich meine Kinder bekomme! Daß ich mit ihnen tun kann, was ich will! Das wäre ja noch schöner, wenn ich nicht mal ein Recht über das habe, was ich im Schweiße meines Angesichts gezeugt habe –«
»Philipp«, sagte Erna schamhaft und senkte den Blick. »Das interessiert doch nicht.«
»Und wie das interessiert!« schrie Lehmmacher. »Ich kann am Tag hundert Mark verdienen, und da kommt so ein Arzt und sagt, das erlaube ich nicht! Ja, Himmel noch mal, wo leben wir denn? In Rußland?!« Philipp Lehmmacher baute sich vor Dr. Julius auf, er zitterte heftig und sprach sich innerlich Mut zu, dieses Tempo und diese Rolle durchzuhalten. »Ich verlange die Herausgabe meiner Kinder, Herr Oberarzt!« brüllte er.
Dr. Julius schüttelte den Kopf.
»Nein!« antwortete er knapp.
»Ich gehe zum Staatsanwalt!«
»Das wäre in Ihrem Falle der richtige Weg.«
Philipp Lehmmacher setzte sich verwirrt. Die Ruhe des Oberarztes nahm ihm den Nerv, weiter zu toben und den wilden, starken Mann zu spielen.
»Wieso?« fragte er.
»Weil das, was Sie mit den Kindern vorhaben, fast kriminell ist. Die Vierlinge sind noch nicht lebensfähig –«
»Aber sie leben doch. Wir haben's doch vorhin gesehen.«
»Sie leben im Inkubator. Im Brutkasten, wie es der Volksmund nennt. Sie haben die gleichen Lebensbedingungen wie im Mutterleib. Außerhalb des Gerätes würden sie sofort sterben.«
»Da siehst du's,« sagte Erna leise und rückte von ihrem Mann ab. »Immer deine Voreiligkeit. Er hat nämlich schon einen Vorvertrag unterschrieben …«
»Was haben Sie, Sie Unglücksmensch?« rief Dr. Julius.
»Na ja, die Leute wollten es so. Sie nennen es Oppison …«
»Option.«
»Ja.« Lehmmacher spielte nervös mit seinen Anzugknöpfen. »Ganz unverbindlich, haben sie gesagt. Nur für den Fall, daß andere Unternehmen auf den gleichen Gedanken kommen könnten. Sie waren zuerst da … und das stimmt ja denn auch.«
»Was sind Sie bloß für ein Vater«, sagte Dr. Julius. Lehmmacher wurde wieder rot, aber dieses Mal schämte er sich.
»Ich habe nur an die Kinder gedacht, Herr Doktor. Glauben Sie mir. Dreitausend Mark im Monat. Ich hätte über die Hälfte gespart. Für die Kinder. Sie hätten später keine Sorgen mehr gehabt –« Er sah treuherzig zu Dr. Julius empor. »Es ist doch kein Verbrechen, wenn ein Vater an später denkt. Ich will doch nur das Beste für meine Kinder –«
»Und das allein ist der Grund, warum sie nicht getrennt werden sollen?«
»Ja, Herr Doktor. Getrennte Siamesen sind ja keine Attraktion. Nur einmal vielleicht, wenn die Operation gelungen ist. Wenn, Herr Doktor, nicht wahr –«
Dr. Julius mußte Lehmmacher in diesem Punkt recht geben. Der Erfolg der Trennung war noch nicht sicher. Noch wußte man nicht genau die anatomischen Zusammenhänge in der Kopfbrücke, kannte nicht die Blutkreisverwandtschaft, die Nervengemeinschaften, alles äußerst diffizile Dinge, von denen eine Fehlkoppelung eine Trennung überhaupt unmöglich machte oder die Opferung eines der Kinder bedeutete, damit das andere, getrennte, sich normal entwickeln konnte.
»Wir müssen das alles der Zeit überlassen, Herr Lehmmacher«, sagte Dr. Julius gütig. Es hat keinen Sinn, ihn anzupfeifen, dachte er. Er hat vielleicht wirklich nur an die Zukunft gedacht, in der naiven Art, die alle Bedenken ausschaltet, wenn es heißt, hundert
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