Kinderstation
daß –«
»Eine Garantie kann bei einer Operation nie ein Arzt übernehmen. Die Möglichkeiten von Komplikationen, die wir nicht ahnen können, ist groß –«
»Sie sagen es. Sie sagen es, Herr Doktor. Komplikationen. Was habe ich davon, wenn die Kinder getrennt sind, aber tot? Nein. Sie bleiben so, wie sie sind« – Philipp Lehmmacher sah seine Frau an. Er spürte, wie sie innerlich schwankte, und trat ihr auf den Fuß. Dr. Julius sah es, und das machte ihn stutzig. Da steckt keine Angst dahinter, spürte er plötzlich. Da ist ein Ereignis von außen eingetreten, das dem guten Lehmmacher die Vernunft verwässerte.
»Sagen Sie die Wahrheit!« herrschte er unvermittelt Erna Lehmmacher, den schwachen Punkt der Familie, an. Erna zuckte zusammen, stieß ihren Mann in die Seite und sagte stockend:
»Sag du es, Philipp.«
»Was denn?« knurrte Lehmmacher und sah weg.
»Sie wissen sicherlich nicht, daß man durch einen Gerichtsbeschluß das Sorgerecht den Eltern wegnehmen kann, wenn das Kind Schaden erleidet. Ich werde mich nicht scheuen, das zu beantragen«, sagte Dr. Julius scharf.
Philipp Lehmmacher seufzte und umklammerte die Krücke seines Regenschirmes. Er warf einen bissigen Blick auf seine Frau Erna und wischte sich dann mit dem Handrücken unter der Nase her.
»Sie wissen, Herr Oberarzt, ich bin Gartengestalter«, setzte Lehmmacher zu einem Plädoyer in eigener Sache an. »Aber das ist ein dummes Wort. Ich bin Gärtner. Popeliger Gärtner bei einer Industriefirma. Ich halte dort die Grünanlagen sauber, die die Verwaltungsgebäude umgeben. Auch 'n paar Ziersträucher, japanische Kirschen, zwei Perückensträucher, einen Essigbaum und so anderes. Mein Gehalt reicht gerade, daß ich einmal täglich normale Verdauung habe. Tariflohn, wissen Sie. Wir Gärtner sind immer das Schlußlicht gewesen. Ja, und nun, nachdem die Vierlinge da sind, läuft es besser. Da läuten die Glocken, wie man so sagt. Erst die Illustrierten für die Bildrechte, jetzt 'ne Wochenzeitung, die mich als ›Gärtner der Familie‹ jede Woche mit 'nem Artikel bringen. Kobumne, nennen se das.«
»Kolumne –« sagte Dr. Julius ernst.
»Genau. Nächste Woche schreibe ich über die Anlage eines Mistbeetes.« Philipp Lehmmacher sah seine Frau hilfesuchend an. »Aber das alles ist ja nicht von Dauer, nicht wahr?« fuhr er fort. »Vierlinge interessieren schon nicht mehr, und die Gartenkolumne ist nach 'nem Jahr auch weg. Aber die beiden zusammengewachsenen Köpfe, die bleiben. Ganz real gedacht, Herr Oberarzt, ist das ein Kapital. Ein wachsendes Kapital gewissermaßen. Ein so armes Schwein wie ich muß an später denken. Eines Tages kriege ich Rheuma von der Arbeit draußen, und was dann? Wir Gärtner sind immer rheumatisch gefährdet. Ich habe einen Bekannten, der ist schon ganz krumm, und mein Onkel lief rum wie ein lebendiges Fragezeichen. Weiß man, was kommt?«
Philipp Lehmmacher schwieg erschöpft. Er war um den Brei herumgeschlichen, so gut und so lange es ging – nun war er am Ende. Er sah seine Frau an und stieß sie in die Rippen.
»Nu sag du doch auch mal was.«
Erna Lehmmacher nickte. »Wir haben ein schönes Angebot bekommen, Herr Doktor. Pro Tag 100 Mark.«
»Das sind im Monat 3.000 Mark, Herr Oberarzt!« rief Philipp Lehmmacher, »Januar, März, Mai, Juli, August, Oktober und Dezember sogar 3.100 Mark. Und das für Jahre. Ist das nichts? Wir können auf einen Rutsch reich werden. Und die Kinder werden ein schönes Leben haben –«
»Und alles andere frei. Krankenkasse bezahlt der Unternehmer. Und ärztliche Betreuung auch«, fügte Erna hinzu.
Dr. Julius bekam einen schweren Druck in der Brust.
»Was ist denn das für ein Angebot?« fragte er ahnungsvoll.
»Eine große Firma. Reist durch die ganze Welt. Amerika, Asien, Australien … und natürlich auch Oktoberfest und andere Kirmesse …« Philipp Lehmmachers Gesicht glänzte. »›Willibalds Abnormitätenschau‹ nennt sich das Unternehmen. Täglich 100 Mark. Ist das nicht ein Glück für uns und die Kinder, Herr Oberarzt?«
Dr. Julius verschlug es zunächst die Sprache. Er sah Philipp Lehmmacher wie einen Exhibitionisten an, ehe er ungläubig fragte: »Das ist doch nicht ihr Ernst –«
»Aber ja, Herr Doktor! Hundert Mark am Tag! Das bekommen Sie nicht!«
»Allerdings nicht. Ich habe auch keine zwei Köpfe.«
»Eben.« Philipp Lehmmacher nickte heftig. »So ein Naturereignis muß man ausnutzen. Das kommt – so sagten mir die Manager von ›Willibalds
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