Kinderstation
zu mir?«
»Nein, Franz.« Julia schüttelte den Kopf. »Nicht böse sein – aber ich kann heute nicht. Ich … ich fühle mich wie tot. Ich möchte mein Kind wiederhaben.«
Sie schlug den Mantel vors Gesicht und weinte.
Es schneite noch immer. Es würde eine weiße Weihnacht werden –
Ernst Bergmann hatte nach seiner glücklich überstandenen Lungenentzündung – er sagte immer ›Pneumonie‹, wie er es von den Ärzten gehört hatte – nicht wieder die alte Lebenskraft zurückgewonnen, die er vorher ausgestrahlt hatte. Er fühlte sich jetzt oft als alter Mann, was er natürlich nicht zugab … aber immer öfter geschah es, daß er Julia einen Vortrag über die Nützlichkeit der Ehe hielt und über die Aufgabe einer gesunden, jungen Frau, völkisch gesehen, im großen und, speziell gesehen, als Erfüllung des eigenen Lebensraumes. Dabei streute er Bemerkungen wie: »Ich komme jetzt ins Großvateralter« ein und erzählte einmal von einem Bekannten, der bereits Großvater sei und ganz närrisch auf sein Enkelkind.
Bisher hatte Julia den Reden ihres Vaters stumm zugehört. Einige Ausdrücke kamen ihr wie aus einer fernen Welt vor, vor allem wenn Ernst Bergmann von der Weitergabe gesunden Volkstums redete und immer wieder davon anfing, daß die Aufgabe der deutschen Frauen die Aufzucht eines starken Geschlechts sei.
Als Schlußpunkt kam dann regelmäßig die große Klage.
»Warum kümmerst du dich eigentlich nicht um den jungen Dr. Platzke? Der Vater hat eine Kleineisenfabrik, der wir die Bilanzen frisieren, und der Junge ist ein begabter Jurist, nicht hübsch, aber ein Mann braucht nicht hübsch zu sein, sondern klug und lebensgewandt. Und beides ist der Platzke. Das wäre ein Schwiegersohn.«
»Ich liebe ihn aber nicht, Vater«, war dann die regelmäßige Antwort Julias. »Ich suche mir meinen Mann allein.«
»Einen Lastwagenfahrer wie diesen Flegel Höllerer. Julia, so etwas könnte mich zu einem Schlaganfall reizen.«
Es war klar, daß solche Abende immer mit einem Mißton endeten. Meistens ging Julia früher als vorgesehen ins Bett und ließ Ernst Bergmann brummend vor dem Fernsehgerät sitzen.
An einem dieser Winterabende, als Bergmann Rührei mit Speck zum Abendessen verzehrt hatte und seine Flasche Pilsener entkorkte, als er wieder ansetzte: »Du, Julia, ich habe wieder den Hans Dörre gesprochen, sein Enkelkind hat die Masern. Der Mann ist ganz durcheinander. Hans, habe ich da gesagt, Masern ist doch halb so schlimm. Hat meine Julia auch gehabt. Und du und ich auch. Nun stell dich mal nicht so an, Opa –«, da sagte Julia unvermittelt in einem tiefen Schluck ihres Vaters aus dem Pilsglas hinein:
»Möchtest du Großvater sein, Paps?«
Ernst Bergmann brachte die artistische Leistung fertig, sich nicht zu verschlucken. Er stellte das Glas nur mit einem Knall zurück auf den Tisch, wischte sich den Mund mit dem Handrücken ab und sagte:
»Was soll das heißen, Julia?«
»Möchtest du's gern?« fragte sie zurück, etwas ängstlicher geworden, aber doch noch mutig genug, um weiterzusprechen.
»Natürlich. Jeder Vater einer erwachsenen Tochter hat einmal die Lebensgrenze erreicht, wo er Enkel sehen will.« Bergmann schob die Bierflasche unruhig hin und her. »Soll das heißen, Julia, daß du dir den jungen Platzke doch einmal ansehen willst? Ein großer, geheimer Wunsch von mir ginge dann in Erfüllung, vielleicht der größte, den ich alter Mann noch auf dieser Welt habe –«
»Nein, Vater. Platzke nicht.«
»Wieder dieser Heringsbändiger? Nie und nimmer!« fuhr Bergmann auf. »Spukt der Flegel noch immer rum? Hast du ihn wiedergesehen? Hat er sich dir genähert? Verdammt, ich schreibe an seine Firma und drohe ihm mit der Polizei.«
»Und … und wenn es nun dazu zu spät wäre, Vater?« sagte Julia leise.
Ernst Bergmann ließ die Bierflasche los und wischte sich wieder über den Mund, ohne daß er getrunken hatte.
»Ich verstehe dich nicht, Julia –«, sagte er verwirrt.
Jetzt muß es geschehen, dachte Julia. Jetzt – oder nie! Jetzt muß er die volle, grausame Wahrheit erfahren. Entweder wird er mich totschlagen, oder er wird selbst einen Herzschlag bekommen, oder er wird es hinnehmen wie einen Wolkenbruch oder ein Erdbeben, als ein Naturereignis, dem er sich nicht widersetzen kann.
»Du kannst dich an einen Artikel in der Zeitung erinnern, Vater?« sagte sie stockend. Ihre Stimme schwankte erst, aber je länger sie sprach, um so fester wurde sie, und um so größer wurden ihr Mut
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