Kinderstation
wegrannte, als flüchte sie vor etwas Grauenhaftem.
»Ich kann nicht mehr, Franz –«, sagte sie zu Franz Höllerer einmal, als sie sich wieder am Sonntag im Stadtpark trafen. »Ich halte es nicht mehr aus. Ich hätte nie geglaubt, daß ich das Kind um so sehnsüchtiger liebe, je länger es von mir fort ist –«
»Aber wir können es doch nicht mehr zurückholen«, sagte Franz Höllerer dumpf.
»Ich gehe zur Polizei und gestehe alles –«
»Und dann? Dann kommst du ins Gefängnis. Das ist ganz sicher. Kindesaussetzung, oder wie man das nennt. Man kann daraus sogar versuchten Mord machen –«
»Aber ich wollte es doch nicht töten!« schrie Julia verzweifelt. »Gerade weil es leben sollte, weil es einmal ein gutes Leben haben soll, habe ich es vor die Tür der Kinderklinik gelegt. Wenn ich es hätte umbringen wollen … das wäre einfacher gegangen –«
»Julia –«, stammelte Höllerer entsetzt. »Sag so etwas nicht. Unser Kind –«
»Unser! Wo ist es denn?« Sie warf den Kopf in beide Hände und schwankte im Sitzen. »Ich halte es nicht mehr aus …«, weinte sie haltlos. »Ich werde wahnsinnig. Jede Nacht liege ich da und starre an die Decke und denke: Was macht es jetzt? Schläft es? Oder weint es, und keiner kümmert sich drum, keiner steht am Bettchen, niemand beruhigt es … Furchtbar ist das, unerträglich.«
Es wurde ein sehr trüber Sonntag im Stadtpark. Zwei Stunden lang gingen sie durch die kahlen Baumalleen, durch die Kälte, die den Boden unter ihnen knacken ließ … später schneite es, und sie standen unter dem Dach eines kleinen Barocktempels, der mitten im Stadtpark lag, sahen auf die lautlos niederschwebenden weißen Flocken, auf die Sträucher und Wiesen, die wie mit Watte zugedeckt wurden, sie waren stumm wie die Natur um sie herum, bis ins Herz kalt wie die Luft, die sie atmeten. Sie wußten keinen Ausweg aus ihrer Not … sie wußten nur, daß es so nicht weitergehen konnte. Ihre Liebe zerbrach an ihrer Schuld, und statt daß sie wuchs und sie enger aneinander band, wie sie es geglaubt hatten, erkannten sie jetzt mit Schrecken, daß das große Bindeglied fehlte: das Kind.
»Ich werde mit Vater reden –«, sagte Julia nach dem langen, quälenden, selbstanklagenden Schweigen.
Franz Höllerer nickte. »Und dann?«
Sie wußte auf die Frage keine Antwort, ebensowenig wie er. Ernst Bergmann, der biedere Buchhalter und Helfer in Steuersachen, würde diesen Schicksalsschlag hinnehmen, das war gewiß. Er zerbrach daran nicht, dazu war er zu sehr festgefügt in seiner Welt des Rechts. Aber gerade das war es, was gefährlich schien. Er würde Rechenschaft verlangen.
Von Julia, seiner Tochter, die ihn enttäuscht hatte, so sehr verraten, daß sein väterliches Herz zerbrach und er nur noch ein Standbild der Vergeltung schien.
Von Franz Höllerer, der Julia verführt hatte, denn so würde es Bergmann nennen.
Und er würde der Gerechtigkeit dienen, indem er beide der irdischen Gerichtsbarkeit übergab, gnadenlos, weil die Ordnung in der Welt ihm wichtiger war als sein Herz. Als ein verstehendes, verzeihendes Herz.
Sie wußten es zu genau, Julia und Franz, und sie standen in der Kälte, starrten in den Schnee, und es fehlte ihnen der Mut, Konsequenzen herauszufordern.
»Ich gehe mit«, sagte Franz Höllerer endlich. »Ich lasse dich nicht allein mit deinem Vater.«
»Du weißt, er läßt dich doch gar nicht in die Wohnung. Heringsbändiger nennt er dich.«
»Dann werde ich mir den Eintritt erzwingen!« schrie Höllerer und drückte Julias schmächtigen Körper an sich.
»Das würde alles nur viel schlimmer machen. Nein, Franz.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich sage es ihm allein. Am Abend, wenn er sein Bier trinkt, wenn er gut gelaunt ist … Ich stehe das schon allein durch.« Sie lächelte schwach und legte den Kopf an Höllerers Brust. »Ich habe ja schon ganz andere Sachen durchgestanden, nicht wahr –«
Franz nickte. In seiner Kehle saß als dicker Kloß die Angst um Julia. Wenn ihr Vater sie anzeigt, werden wir flüchten, dachte er. In der Nacht noch werden wir über die Grenze in die Schweiz fahren. Ich werde überall Arbeit finden, ich habe zwei gesunde Hände und zwei muskulöse Arme. Ob im Granitbruch bei Bellinzona oder als Abschmierer auf einem Zürichsee-Dampfer … ich habe keine Angst vor der Arbeit.
»Komm –«, sagte er leise. »Du frierst ja.« Er legte den Arm um sie, öffnete seinen Mantel und schob sie darunter. »Wir haben noch zwei Stunden Zeit. Gehen wir
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