Kinderstation
Fenster Sträucher sehen können. Vom Garten bis zur Fensterbrüstung können es keine zwei Meter sein –«
»Mag sein, Vater –«
»Es ist so. Ein junger Mann mit etwas Mumm in den Knochen ist mit einem Klimmzug auf der Brüstung. Das ist gar kein Problem.« Ernst Bergmann rüttelte die wie abwesend über die Straße blickende Julia am Arm. »Ist dein Franz ein guter Turner?«
»Ich weiß nicht, Vater.«
»Wir werden ihn fragen. Er soll heute abend zu uns kommen. Ich habe da so einen Plan –«
»Was für einen Plan, Vater?«
»Später, Julia.« Ernst Bergmann hatte es nun eilig, eine Taxe zu bekommen, und winkte mit beiden Armen zu den wartenden Autos. »Laß mich ab jetzt alles machen. Ich begehe keine Dummheiten. Du hättest viel mehr Vertrauen zu deinem Vater haben sollen. Das alles wäre gar nicht nötig gewesen. Aber der alte Bergmann bringt das schon in Ordnung. Nur keine Sorge. Ich lasse doch meine Enkelin nicht in fremden Händen –«
Wortlos saßen sie dann im Auto und fuhren nach Hause. Das Pflaster unter ihnen hoppelte gegen die Räder, der Motor rauschte. Julia preßte die Hände gegen die Ohren. Alle Geräusche verdichteten sich in ihr zu einem einzigen Rhythmus … Mein Kind … mein Kind … mein Kind …
Als sie ausstiegen, mußte Ernst Bergmann sie fast tragen. Der Besuch war über ihre Kraft gegangen.
Es war Franz Höllerer nicht ganz wohl zumute, als er am Abend an der Wohnungstür von Bergmann schellte. Noch weniger gefiel ihm, daß Ernst Bergmann selbst öffnete und nicht Julia, von der er noch schnell erfahren wollte, wie die Stimmung war.
»Kommen Sie herein, Franz!« sagte Bergmann. Daß er Höllerer so formlos beim Vornamen nannte, brachte Franz völlig aus dem Gleichgewicht. Er ging an dem Alten vorbei in die kleine Diele und sah sich nach Julia um.
»Ist Julia nicht hier?« fragte er unsicher.
»Doch. Im Bett.«
»Im Bett? Ist sie krank?« In Höllerers Stimme schwang ehrliche Sorge.
»Nein. Erschöpft.«
»Wovon erschöpft? Darf ich zu ihr?«
Ernst Bergmann wollte nein sagen, aber dann kam ihm zum Bewußtsein, daß Franz Höllerer mehr als er selbst ein Recht habe, sich um Julia Sorgen zu machen.
»Sie steht gleich auf«, sagte er deshalb ausweichend. »Gehen wir ins Wohnzimmer. Dort hinten die Tür.«
»Ich weiß.«
»Ach ja, Sie wissen ja. Natürlich.« Bergmann ging hinter seinem Schwiegersohn her, und es war ein merkwürdiges Gefühl, denken zu müssen: Dieser mir völlig fremde Mann hat nun ein Recht auf meine Tochter. Er ist sogar der Vater meines Enkelkindes.
Im Zimmer stellte Bergmann eine Flasche Bier auf den Tisch, holte zwei Gläser und schenkte ein. Im Badezimmer rauschte das Wasser. Julia war aufgestanden. Franz Höllerer atmete sichtbar auf. Es schien sich um keine schwere Erkrankung zu handeln.
»Julia hat mir alles erzählt –«, begann Ernst Bergmann, die ein wenig drückende Stille zu zerschneiden.
»Alles –?« fragte Höllerer zurück.
»Ja, alles. Auch die Sache mit dem Kind.«
»Lassen Sie sich erklären, Herr Bergmann –«
»Was brauche ich Erklärungen, Franz? Es ist geschehen, und damit basta.« Ernst Bergmann sah auf den Schaum seines Bieres. »Ein schönes Kind –«
»Aber –«, Höllerer blieb der Mund offen. Hier ist etwas faul, durchzuckte es ihn. Wieso ein schönes Kind? Keiner von uns hat es doch gesehen. Der Alte hat den Verstand verloren, als Julia ihm alles gebeichtet hat.
Ernst Bergmann schüttelte den Kopf. Er las im Blick Höllerers genau, was dieser dachte.
»Nein, ich bin nicht übergeschnappt, mein Junge. Wir waren heute in der Klinik … Julia und ich. Wir haben das Kind angesehen.«
»Aber –«, Franz Höllerer sah sich hilfesuchend um. »Die lassen doch keinen an das Kind.«
»Mich schon. Ich habe mich erboten, den Findling zu adoptieren.«
»Sie wollen – Nein!« Höllerer sprang auf. »Es ist mein Kind!«
»Setzen!« Bergmann winkte energisch auf den Stuhl. »Erst wollte es keiner, jetzt schlagen sie sich darum. Ich bin der Großvater.«
»Unbestreitbar.«
»Also spreche ich ein Wort mit. Das Kind muß aus der Klinik zu uns. Bis wir die Genehmigung haben, es zu adoptieren, kann noch Wochen dauern. Mir scheint, daß die Ärzte da Schwierigkeiten machen, vor allem einer von ihnen. Warum, weiß ich nicht. Aber darauf lasse ich mich nicht ein. Ich will meine Enkelin hier haben. Der einfachste Weg wäre, der Polizei zu beichten. Dann geht Julia ins Gefängnis. Wollen Sie das?«
»Auf gar keinen Fall!«,
Weitere Kostenlose Bücher