Kinderstation
wir wissen, welches Fenster es ist. Von draußen sehen sie alle gleich aus. Ich werde irgend etwas an die Scheibe kleben, eine kleine Plakette oder sonst was. Ich weiß es noch nicht. Aber ich werde mich überzeugen. Schließlich steht mir ja als Adoptionsantragsteller ein gewisses Kontrollrecht über meine zukünftige Tochter zu –«
Man blieb an diesem Abend bis tief in die Nacht zusammen und besprach immer wieder in allen Einzelheiten den Plan, Maria Ignotus aus der Klinik ›Bethlehem‹ herauszuholen. Franz Höllerer versprach, an der Laderampe von Diederichs & Co. in jeder freien Minute Klimmzüge zu üben. In einem alten Lagerschuppen, der nicht mehr benutzt wurde, der aber noch fünf unversehrte Fenster hatte, wollte Höllerer außerdem das lautlose Zerschlagen einer Scheibe üben. Mit einem Sack und Schmierseife. Es kam darauf an, daß keine Scherben klirrten, sondern daß sie durch die Schmierseife am Sackstoff kleben blieben. Das hört sich simpler an, als es in Wirklichkeit ist.
Als der kleine Wagen mit Höllerer endlich durch die Nacht davonbrummte, stand Ernst Bergmann am Fenster und sah den verschwindenden Rücklichtern nach.
»Ein netter Kerl –«, sagte er zu Julia, die hinter ihm stand und die Arme um seinen Hals geschlungen hatte. »Ihr solltet wirklich werden –«
Die Ereignisse wurden – natürlich unbewußt – durch Dr. Wollenreiter beschleunigt, und zwar so, daß Ernst Bergmann, sein unbekannter Gegner, in regelrechte Zeitnot geriet.
Wollenreiter hatte wieder einen seiner berühmten Alleingänge unternommen, war bis zum Leiter des Jugendamtes vorgedrungen und hatte ihm, da sich dieser als Akademiker herausstellte, als Bundesbruder zum Bundesbruder klargemacht, daß der Antragsteller Ernst Bergmann zu alt sei.
»Maria Ignotus gehört in einen modernen, jungen Haushalt«, plädierte Dr. Wollenreiter mit sichtbarem Erfolg. »Soll das Kind schon in der Spielhose vergreisen? Überlegen Sie doch mal … Bergmann kann doch nur einen kleinen Teil der Entwicklung miterleben, und was dann? Seine Tochter? Die wird eines Tages selbst heiraten und eigene Kinder kriegen. Soll Maria Ignotus dann das fünfte Rad am Wagen sein? Das hat sie nicht verdient.«
»Ich werde mir das überlegen, lieber Bundesbruder«, versprach der Leiter des Jugendamtes. »Ihre Argumente haben etwas für sich –«
Der Erfolg der Überlegungen war ein amtliches Schreiben an Ernst Bergmann. Es überraschte ihn, als er zwischen zwei Münchner Stellenangeboten schwankte … Buchhalter in einem Illustriertenverlag oder Buchhalter in einer optischen Fabrik. Die Gehälter waren beide gleich und lagen so, daß man sagen konnte: mies.
»Julia«, schrie Bergmann nach der Lektüre des Schreibens. »Julia! Wir haben keine Zeit mehr! Das Jugendamt macht Einwände. Ich sei zu alt! Ich – zu alt! Denen werde ich was sagen! Denen werde ich zeigen, wieviel Mumm noch in den Knochen des Bergmann ist! Zu alt! Und das mir!« Er warf den Brief auf den Boden und stampfte darauf herum. »Aber jetzt heißt es handeln! Jetzt kommt es auf Stunden an! Soll ein anderer unser Kind bekommen? Nicht auszudenken! Los! Wir fahren sofort zu Franz.«
Höllerer war unterwegs mit dem Viertonner und kam erst am Abend zurück. Er fand zwei aufgeregte Familienmitglieder auf dem Autohof und führte sie in sein Übungsgebäude, den alten Schuppen. Bergmann setzte sich nicht auf die angebotenen leeren Kisten, sondern rannte in höchster Erregung hin und her.
»Morgen muß es geschehen. Keinen Tag später! Ich gehe am Nachmittag in die Klinik und überzeuge mich, wo sie liegt … und in der Nacht holst du sie.«
»Unmöglich«, sagte Franz Höllerer. »Und dann nach München?«
»Sofort!«
»Ich habe vierzehntägige Kündigung, so schnell geht das nicht.«
»Kündigungsfrist! Wo es um deine Tochter geht«, schrie Bergmann. »Pfeif was auf die Frist.«
»Das kann mich aber ein Arbeitsgerichtsverfahren kosten.«
»Auch das pauken wir durch.«
»Und außerdem fällt es auf: Kind weg, ich weg, Julia weg. Das merkt doch jeder.«
»In unserer Stadt sind fast 700.000 Menschen. Als ob es da auffällt, wenn zwei plötzlich umziehen.«
»In diesem Zusammenhang doch.«
»Wer soll es denn merken?«
Franz Höllerer schwieg. Ihm kam das alles nicht mehr ganz geheuer vor. Daß er sein Kind holen würde, war sicher, aber um es perfekt zu machen, brauchte man Zeit. Ein einziger Fehler, der zur Entdeckung führte, bedeutete das Ende aller Zukunftspläne. Dann saßen
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