Kinderstation
Julia und er im Gefängnis, und sie würden das Kind nie wieder bekommen. Entziehung des Erziehungsrechtes, nannte man so etwas.
»Morgen nacht«, sagte Bergmann stur. »Irgend jemand hat beim Jugendamt quergeschossen. Vor ein paar Tagen war ich ja noch nicht zu alt. Wir müssen handeln, Kinder!«
»In Gottes Namen – gut.« Höllerer hob die Schultern. »Versuchen wir es morgen.«
»Versuchen?« schrie Bergmann. »Es muß gelingen!«
»Gut. Es gelingt. Aber ich habe ein ungutes Gefühl dabei, lieber Schwiegervater –«
Prof. Karchow war zum erstenmal in seinem Leben nicht in der Lage, seinen Sarkasmus auszuspielen oder eine seiner Bemerkungen loszuwerden. Nicht aus Mangel an Gelegenheit, sondern aus einer gewissen Scheu heraus. Und das war selten bei Karchow. Er rief deshalb auch seinen Oberarzt Dr. Julius zu Hilfe, und zwar vom Sekretariat aus.
»Julius, kommen Sie mal rüber«, sagte er. »Bei mir sitzt ein Geistlicher. Ja, ein Monsignore sogar. Er hält mir gerade einen Vortrag, daß es nicht im Sinne der Kirche sei, die siamesischen Zwillinge zu trennen.«
»Ich komme sofort«, antwortete Dr. Julius. Diese neue Komplikation bei den Vierlingen Lehmmachers schien ihm sehr kompakt zu sein. Wenn die Kirche sich für einen medizinischen Fall interessiert, ist meistens auch die Öffentlichkeit informiert und in zwei Lager gespalten.
Im Chefzimmer erhob sich Monsignore Blond und begrüßte den Chirurgen Julius. Ewald Blond machte seinem Namen keinerlei Ehre, denn er war schwarzhaarig, verhältnismäßig jung für seinen päpstlichen Titel und klein und dicklich.
»Sie also sind der Mann, der unsere lieben Zwillinge trennen will?« sagte er zum Oberarzt Dr. Julius. Ein Hauch von Güte und Gefahr wehte den Arzt an. Er merkte es fast körperlich.
»Sie kennen den Fall genau, Monsignore?«, fragte Dr. Julius direkt. Eine Frage, die Prof. Karchow aus Höflichkeit unterlassen hatte. Statt dessen hatte er den Monsignore mit Jagdabenteuergeschichten unterhalten und tunlichst das Medizinische vermieden.
»Zum Teil, Herr Doktor.«
»Man muß das Ganze kennen, um sich ein genaues Urteil zu machen, Monsignore«, sagte Dr. Julius. »Die Medizin ist etwas Reales … sie verspricht Heilung, aber kein ewiges Leben …«
Prof. Karchow wurde rot. »Na, na, Julius –«, warf er ein. Monsignore Blond lächelte gütig.
»Die zornigen jungen Männer«, sagte er weise. »Lassen Sie ihn, Professor. In Wahrheit steht am Operationstisch ja doch Gott neben ihm.«
»Nein. Mein zweiter Assistent«, antwortete Julius.
Monsignore Blond sah Dr. Julius lange und schweigend an. Dann räusperte er sich und faltete die Hände im Schoß.
»Man hat mir gesagt, daß eine solche Trennung von Siamesen meistens den Tod des einen Kindes bedeutet.«
»Meistens –«, stimmte Dr. Julius bei.
»Die Statistiken beweisen es. Die Kirche steht aber auf dem Standpunkt, daß eine Operation, bei der man von vornherein weiß, daß ein Kind sterben muß, unstatthaft ist. Sie ist – im weitesten Sinne natürlich – Mord mit dem Skalpell. Es geht nicht an, daß man ein Leben rettet, indem man das andere tötet.«
»Wenn wir die Siamesen nicht trennen, sind sie in dieser Form auch nicht lebensfähig. Die Infektion des einen etwa bedeutet auch den Tod des anderen.«
Monsignore Blond hob beide Hände. »Dann ist es Gottes Wille, Herr Doktor. Gott hat sie so auf die Erde gelassen, Gott nimmt sie so auch wieder zu sich –«
Dr. Julius sah zu Prof. Karchow hin. Dieser schnitt sich äußerst konzentriert eine Zigarre zurecht und vermied es, Stellung zu nehmen.
»Ich komme da nicht mehr mit«, sagte Dr. Julius laut. »Ich sehe die Notwendigkeit rein medizinisch. Wenn ich bei jedem Eingriff erst Bibelkommentare lesen soll –«
»Können Sie garantieren, Herr Doktor, daß die beiden Kinder die Trennung überleben?« fragte Monsignore plötzlich ohne priesterliche Verbrämung. Dr. Julius schüttelte energisch den Kopf.
»Nein! Wer kann das.«
»Aber Sie wagen die Trennung?«
»Natürlich.«
»Wie wollen Sie den Tod eines Kindes, falls es zu dieser Tragödie kommt, vor den Eltern verantworten?«
»Wie wollen Sie es als Vertreter Gottes verantworten, daß Menschen gesegnet und ihnen die Absolution erteilt wird, die Bomben herstellen, mit denen später Frauen und Kinder getötet werden?«
»Sie werden unsachlich, Julius –«, versuchte Prof. Karchow im letzten Moment noch eine Brücke zu schlagen. Monsignore Blond war aufgesprungen. Er reichte Julius
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