Kinderstation
Fenster besaß, war es einfach. Aber Bergmann wollte auf Sicherheit gehen.
Vor Nr. 10 blieb Wollenreiter stehen. Also noch das gleiche Zimmer.
»Zwei Minuten –«, sagte er zu dem alten Bergmann. »Eigentlich dürfte ich Sie gar nicht hereinlassen, ohne daß man Sie steril gemacht hat.«
»Himmel noch mal, sind Sie pingelig«, sagte Bergmann. »Wenn man alle Mütter, die ihre Kinder zu Hause anfassen, erst desinfizieren sollte –«
»Hier ist eine Klinik, mein Herr.« Wollenreiter sah Bergmann mißachtend an, als sei dieser ein faulender Kohlkopf. »Zwei Minuten!« Und er klinkte die Tür auf.
Ernst Bergmann handelte schnell. Er hielt sich an dem Bettchen nur ein paar Sekunden auf, starrte auf seine Enkelin, die auf dem Kissen lag, mit den Fingerchen spielte und den fremden Mann mit großen, leuchtenden blauen Augen ansah. Dann lachte es, das Mündchen verzog sich, wie Sonnenschein glitt es über die zarte Haut.
Bergmann riß sich von diesem herzerweichenden Anblick los, rannte ans Fenster und blickte hinaus in den Garten.
Brüstung – Gartenboden keine zwei Meter, stellte er fest. Und dann klebte er eine kleine weiße Siegelmarke an die Scheibe, rechts unten, gleich über dem Holzrahmen. Da am Nachmittag nicht mehr geputzt wurde, würde niemand sie entdecken, und wenn, so störte sie nicht, und man würde sie am Fenster lassen. Hier kalkulierte Bergmann das Trägheitsmoment des Menschen ein, und er tat richtig damit.
Kaum stand er wieder am Bettchen und streckte seine Hand aus, um die Fingerchen Marias zu fassen, ging die Tür wieder auf, und Wollenreiter trat ein.
»Zwei Minuten sind vorbei, mein Herr!«
Bergmann fuhr auf. »Sie stehen wohl mit der Stoppuhr in der Hand vor der Tür, was?« rief er empört. »Das ist ja schlimmer wie beim Militär.«
»Eine große Klinik lebt nach der Uhr. Darf ich bitten?«
»Ich werde bei Ihrem Chef eine Beschwerde einreichen!«
»Das steht Ihnen frei«, antwortete Wollenreiter kühl.
»Man wird hier behandelt wie ein Hund! Raus, an den Baum, Bein hoch, rein! Unerhört!«
Dr. Wollenreiter machte Platz und ließ den empörten Bergmann aus dem Zimmer. Maria Ignotus begann zu greinen, die lauten Stimmen hatten es erschreckt.
»Jetzt weint sie«, schrie Bergmann auf dem Flur.
»Wenn Sie auch so brüllen wie ein Stier –«
»Bei mir hat sie gelacht, als sie mich sah. Aber kaum waren Sie im Zimmer, weint sie. Kinder haben ein feines Gefühl. Sie sind der Kleinen total unsympathisch. Man sieht's und man hört's.«
Wollenreiter verzichtete darauf, mit Bergmann einen langen Disput zu beginnen. Morgen hat er den Brief, dachte er zufrieden. Morgen ist dieser Spuk vorbei.
Er ließ Ernst Bergmann nach einem kurzen, unpersönlichen Kopfnicken einfach stehen und ging in sein Zimmer.
»Flegel«, brummte Bergmann und steckte die Hände in die Tasche. »Morgen früh werdet ihr eure Sicherheit verloren haben.«
Er war in diesen Minuten direkt froh darüber, diesem Dr. Wollenreiter eine bittere Lehre zu erteilen.
Ach ja, es gibt so viele Möglichkeiten, sein moralisches Gewissen zu besänftigen –
Um zwei Uhr nachts – Nachtwächter Bramcke hatte seine Runde gerade beendet, saß im gläsernen Portierkasten und trank ein Täßchen Kaffee – hielt vor der Gartenmauer der Kinderklinik ›Bethlehem‹ ein kleiner Wagen. Niemand hörte das leise, helle Singen des Motors, niemand achtete auf das Zuklappen der Türen.
Ernst Bergmann und Franz Höllerer standen an der Mauer, durch die Scheibe des Rücksitzes starrte das bleiche Gesicht Julias zu ihnen hin.
»Alles klar, Franz?« sagte Bergmann wie ein Feldherr. »Julia bleibt im Wagen, ich stehe Schmiere an der Mauer und du saust los. Hast du nichts vergessen?«
»Nein, Vater.« Franz Höllerer kontrollierte seine Ausrüstung. Stablampe, der Sack, zwei Pfund weiße Schmierseife, ein kleines Stemmeisen, ein Schraubenzieher, mehr war nicht nötig, wie die Übungen im Lagerschuppen bewiesen hatten.
»Dann los. Und viel Glück!«
Franz Höllerer schwang sich auf die Mauer, indem er in die Hände Ernst Bergmanns stieg und so die Kante fassen konnte. Ein Klimmzug, und er saß oben. Bergmann nickte. Ein guter Turner, der Franz. Ein kräftiger Kerl.
Und auf der Mauer erst fiel ihm ein, wie er, mit dem Kind im Arm, auf der anderen Seite wieder hinaufkommen sollte.
»Wir haben ein Seil vergessen«, sagte er leise.
»Ein Seil? Wozu?«
»Für die andere Seite.«
»Himmel, Arsch und Zwirn!« Bergmann hieb die Fäuste
Weitere Kostenlose Bücher