Kinderstation
zusammen.
»Lauf zum Wagen, hinten im Kofferraum ist ein Abschleppseil. Das muß reichen.«
Bergmann rannte los. Kofferraum auf, Seil heraus, zurück. Keuchend erreichte er die Mauer und warf Franz den Strick hoch. Dann lehnte er sich an die Steine, drückte die Hände gegen das Herz und atmete stoßweise. Man ist keine dreißig mehr, dachte er. Diese Aufregung, diese Belastung. Tief Luft holen, Ernst, ganz tief Luft holen.
Franz Höllerer sprang in den Garten. Die weiche Erde dämpfte seinen Fall, man hörte gar nichts.
Die Nacht war klar und ziemlich hell. Der abnehmende Mond war noch halbvoll, und Franz mußte im Schatten der Büsche und der Mauer an den Flügel heranschleichen, in dem Maria Ignotus lag.
Im Schutze der Hauswand huschte er die Fensterreihe entlang und suchte den kleinen weißen Papierfleck, das Siegel, das Bergmann an die Scheibe geklebt hatte.
Fast am Ende des Gebäudes sah er es. Ein weißer Punkt.
Franz Höllerer hockte sich unter die Brüstung, faltete den Sack auseinander und bestrich ihn dick mit Schmierseife.
In der Pförtnerloge erschien zu diesem Zeitpunkt Dr. Wollenreiter. Er hatte Nachtwache und wollte sich die Zeit mit einem Gespräch mit Bramcke vertreiben. Seit es feststand, daß Bramcke nicht adoptieren konnte, hatte sich ihre Feindschaft gelegt.
»Eine Tasse Kaffee, Herr Doktor?« fragte Bramcke, als Wollenreiter gähnend auf einen Stuhl sank. »Meine Olle kocht einen Kaffee, daß Schlafkranke aufwachen.«
Wollenreiter nickte. »Eine miese Nacht«, sagte er schläfrig. »Keine Einlieferung, nichts.«
Unter der Fensterbrüstung packte Franz Höllerer die Schachtel mit dem Rest der Schmierseife wieder ein. Dann trat er zurück und musterte die Höhe. Mit einem Sprung kann man die Brüstung fassen, dachte er. Wenn das Kind bloß nicht anfängt zu schreien –
»Na, wie schmeckt der Kaffee?« fragte Nachtwächter Bramcke und wickelte ein Wurstbrot aus Pergamentpapier. »Meine Olle hat die Bohnen noch nie gezählt. Das hat se im Griff, wie so manches –« Er lachte meckernd und erwartet von Dr. Wollenreiter einen gepfefferten Medizinerwitz als Antwort.
Aber der Arzt war nicht in der rechten Laune. Neben der Schläfrigkeit, gegen die er ankämpfte, hatte ihn eine unerklärliche innere Unruhe erfaßt. Er hatte das Bedürfnis, immer herumzugehen, kreuz und quer durch das schlafende Haus, so sinnlos es auch war. Er stand auf, umkreiste Bramcke, riß die Tür des Glaskastens auf und lauschte hinaus in die stille Halle. Bramcke kaute mit vollen Backen.
»Erwarten Sie wieder 'nen Findling, Herr Doktor?« Er trank etwas zu hastig, bekam einen Schluckauf und machte laut »hick«. »So was kommt nicht in Serie vor – hick –, das war einmalig. Wie kann eine Mutter bloß – hick –«
»Seien Sie mal still!« Wollenreiter winkte ab.
»Was ist denn?«
»Irgend etwas liegt in der Luft.«
»Ja. Schnee.«
»Quatsch! Ich kenne diese Unruhe an mir.«
»Noch 'n Kaffee, Herr Doktor?«
Wollenreiter schloß wieder die Tür des Glaskastens. Blödsinn, dachte er. Auf den Stationen 1-3, die er betreute in dieser Nacht, lagen zwei schwere Fälle, und diese kontrollierte ständig die Nachtschwester. Sie würde klingeln, wenn es notwendig war. Was sollte anderes schon passieren?
Er trank gehorsam noch eine Tasse des Bramcke-Kaffees, aber die innere Unruhe blieb.
Franz Höllerer hatte den Sprung geschafft. Er hing an der Brüstung, seine Finger krallten sich in den Stein, er pendelte zweimal hin und her, dann zog er sich mit einem kräftigen Klimmzug hoch, bis er die Ellenbogen aufstützen konnte.
Geschafft. Die erste Etappe. Langsam zog er den Körper nach und setzte sich auf die schmale Steinbrüstung. Er wickelte den mit Schmierseife bestrichenen Sack auseinander und drückte die klebrige Seite fest gegen die Fensterscheibe.
Noch einmal lauschte Franz nach allen Seiten.
Im Garten war es still, auf der Hauptstraße vor dem Haus rauschten einige Autos vorbei. Irgendwo bellte ein Hund. Hell, kläffend, heff-heff. Ein Spitz.
Franz Höllerer winkelte den linken Arm an und stieß mit dem Ellenbogen gegen die Scheibe. Er hatte es so oft geübt, und doch wunderte er sich jetzt, daß nicht der geringste Laut aufklang, kein Klirren, kein Splittern, nur der dumpfe Schlag, der aber sofort erstarb, da er keinerlei Resonanz fand.
An dem Kartoffelsack, in der Schmierseifenschicht, staken die Glasscherben. Ein vorsichtiger Ruck, weg mit dem Sack, ein Griff durch das Loch im Fenster,
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