Kinderstation
Herunterdrücken des Riegels. Lautlos schwang die zertrümmerte Scheibe nach innen ins Zimmer.
Der Weg war offen.
Wie leicht man ein Kind stehlen kann, durchfuhr es Franz Höllerer. Es ist überhaupt kein Problem. Da denkt man, sein Kind ist in einer Klinik sicher, und es genügen ein Stück Sackleinen und zwei Pfund Schmierseife, um ein Verbrechen zu begehen.
Vorsichtig ließ er sich in das dunkle Zimmer gleiten, deckte die Hand über das Scheinwerferglas und knipste die Stablampe an. Ein Hauch von Licht glitt über die Wände, Tapeten, Wickeltisch, Spülstein.
Das Bettchen. Weißlackierte Gitterstäbe.
Das Kind.
Franz Höllerer hatte ein ganz merkwürdiges Gefühl, als er sich über die Gitterstäbe beugte und den Schein der Stablampe schräg auf das Köpfchen gleiten ließ. Eine ihm unbekannte Schwere des Herzens drückte in seiner Brust, ein plötzliches Glücksgefühl, das über alle Nerven flimmerte.
Mein Kind, dachte er. So sieht mein und Julias Kind aus. So rosig, so rund und dick, so wundervoll selig.
Er knipste die Lampe aus, wartete ein wenig, bis sich seine Augen an die fahle Dunkelheit gewöhnt hatten, und schob dann seine Hände ganz sacht unter den warmen Körper des Kindes. Zusammen mit der Decke, unter der es lag, hob er es vorsichtig auf, schob es auf den zweiten Arm und drückte es gegen seine Brust. Auf Zehenspitzen eilte er ans Fenster zurück, setzte sich auf die Fensterbank, drehte die Beine ins Freie und sah hinaus in die Nacht und auf den Gartenboden unter sich. Es gab nur eines: springen. Zwei Meter sind keine Höhe, aber mit einem Säugling in den Armen, mit dem eigenen, jetzt gestohlenen Kind, sind zwei Meter eine Gefahrenquelle.
Franz Höllerer zögerte. Er beugte sich über das schlafende Kind und zwang sich, nicht den kleinen, im Traum lächelnden Mund zu küssen. Eine ungeheure Zärtlichkeit überflutete ihn, aber gleichzeitig mit ihr kam auch die Angst, eine Angst, die er früher nie gekannt hatte und ihn jetzt abhielt, etwas zu wagen, was er vor diesen Minuten als ausgesprochen dumm abgetan hätte.
Er rutschte, so weit es möglich war, nach vorn, saß auf der Steinbrüstung und überlegte, wie er das Kind am besten halten konnte. Er entschloß sich, beide Arme anzuwinkeln und den kleinen Körper in den Armbeugen wie in einer Wiege zu schützen.
Endlich sprang er, und es gelang besser, als er befürchtet hatte. Der weiche, mit Schneematsch überzogene Boden federte zurück, Maria Ignotus erwachte nicht … sie öffnete nur schmatzend das Mündchen.
Franz rannte wie besessen die Mauer entlang und erreichte mit fliegendem Atem die Stelle, an der das Abschleppseil herunterhing. Oben auf der Mauer hockte Ernst Bergmann. Es war ein lächerlicher Anblick; ein alter Mann mit flatternden weißen Haaren saß nachts auf einer Mauer, geduckt wie ein Kater auf dem Liebesstrich, und ruderte mit beiden Händen, als er den Schatten heranrennen sah.
»Was dauert das lange«, zischte er. »Was ist denn los? Gab es etwa Schwierigkeiten? Ich wollte schon nachkommen!«
»Nimm das Kind, Vater!«
Höllerer hob das Bündel in der weißüberzogenen Decke hoch. Mit zitternden Händen nahm Bergmann das Kind, hielt es fest, während Franz an dem festgehakten Schleppseil die Mauer hinaufhangelte, dann sprang Höllerer auch zuerst auf die Straße, nahm das Kind wieder und rannte zum Wagen.
Ächzend ließ sich Ernst Bergmann von der Mauer gleiten und lief Höllerer nach. Das Abschleppseil ließ er an der Mauer hängen.
Im Wagen nahm Julia das Kind aus Höllerers Armen und legte es auf den Schoß. Sie weinte vor Glück, hielt ihre Hände schützend über den kleinen Kopf und drückte das Gesicht an die Wolldecke.
»Mein Liebling«, flüsterte sie. »Mein Kleines, mein Süßes … nun bist du endlich bei mir. Ich gebe dich nie, nie mehr her –«
Franz saß schon hinter dem Steuer und ließ den Wagen an, als Ernst Bergmann japsend heranschwankte und auf den Sitz fiel.
»Ab«, stöhnte er. »Bloß weg!«
Dann warf er den Kopf nach hinten und rang nach Atem.
Seine Brust hob sich ein paarmal pfeifend, als entweiche Luft aus einem Ballon; als Franz Höllerer anfuhr und mit hoher Geschwindigkeit in Richtung Stadt raste, lag Ernst Bergmann schief auf dem Nebensitz und war ohnmächtig geworden.
Dr. Wollenreiter hielt es in dem Portierglaskasten nicht aus. Es war ihm, als stecke er in einer Klimakammer, in der man die Luftzufuhr vergessen hatte.
»Wenn es hier Föhn gäbe, würde ich sagen, so ein
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