Kindertotenlied: Thriller (German Edition)
lockerte mit einem Finger den gesteiften Kragen ihres Uniformhemds. Trotz offenem Fenster war es in ihrem Büro unglaublich stickig. Auch das hatte sich während ihres Urlaubs nicht verändert: Niemand hatte die Klimaanlage repariert. Auch für neue PCs oder für schnellere Internetanschlüsse gab es keine Mittel. Also dauerte es mindestens fünf Minuten, um das Foto eines Tatverdächtigen hochzuladen. Und von ihren Leute war einer krankgeschrieben, während der andere gerade Rasen mähte! So sah es aus in einer Gendarmerie-Brigade der französischen Provinz.
Es war ein typischer Sommermorgen: Ein Monat ohne Chefin hatte die Mitarbeiter plötzlich erinnert, dass das Leben sehr viel leichter war, wenn sie nicht da war. Natürlich hatten ihre Männer auch allen Grund, sich zu beschweren: Personalmangel, Nacht-, Wochenend- und Feiertagsdienste, immer längere Arbeitszeiten, die Unterbezahlung, die baufälligen Dienstwohnungen und der veraltete Wagenpark – und dazu noch Politiker, die vollmundig die Kriminalitätsbekämpfung zur Priorität erklärten. Beim Fahndungsdienst hatte sie zuletzt immer auf eigene Faust gehandelt; hier aber musste sie irgendwie ein solidarisches Team um sich aufbauen.
Stirnrunzelnd betrachtete sie den Stoß Akten auf ihrem Schreibtisch. Autoiebstähle, Einbrüche, Verkehrsdelikte, Sachbeschädigung, und die wenigsten davon aufgeklärt. Toll. Nicht wenig stolz war sie dagegen auf ihre Bilanz im Bereich der Gewaltkriminalität, wo sie eine Aufklärungsquote von 70 Prozent vorweisen konnte, weit über dem nationalen Durchschnitt. Bei zwei Fällen aber kam sie kaum voran: Bei einer Vergewaltigung, für die es kaum Indizien gab, warteten ihre Männer ganz offenbar auf ein Wunder, das ihnen trotz mangelnden Aufklärungseifers die Lösung in den Schoß legte. Mühe machte auch eine Bande, die mit der Technik der „Libanesischen Schlinge“ Kreditkarten plünderte: Die Karten wurden mit einem Stück Karton im Schlitz des Geldautomaten blockiert. Ein vermeintlicher Helfer entlockte dem Opfer seine PIN-Nummer, und während der genervte Kunde sich in der Bank über die geschluckte Karte beschwerte, wurden über die gestohlene Karte möglichst viele Käufe und Abhebungen getätigt. Das passierte immer wieder am selben Geldautomaten. Dieser Bande musste man doch eine Falle stellen können.
Durch die halb geöffnete Tür hörte sie einen ihrer Männer hereinkommen.
„Alle mal herhören, Jungs!“
Alle unterbrachen ihre Arbeit, und auch Ziegler hoffte endlich auf neue Informationen.
„Offenbar will Domenech auch gegen Mexiko Anelka als Stürmer einsetzen.“
„Das darf doch nicht wahr sein!“, entfuhr es einem der Kollegen.
„Und auch Sidney Govou …“
Fassungsloses Murren. Ziegler verdrehte die Augen. Ihre Gedanken kehrten wieder zu dem Zeitungsartikel zurück, und zu der Mail in Martins Computer. Die Akten auf ihrem Schreibtisch hatten jetzt einen ganzen Monat auf sie gewartet, da konnten sie auch noch ein bisschen länger warten. Sie stand auf, sie musste jemanden treffen.
Margot drehte sich eine Zigarette. Sie hatte sich den Filter zwischen die Lippen gesteckt und verteilte die Tabakfäden auf dem Papier, während sie die andere Seite des Pausenhofes beobachtete, wo sich die Schüler aus dem zweiten Jahr der Khâgne versammelten. Sie hatte das Ende von Van Ackers Stunde kaum erwarten können. Dabei machte ihr sein Unterricht normalerweise Spaß. Vor allem wenn Van Acker unausstehlich war, also meistens. Francis Van Acker war ein Sadist, ein Despot mit einem feinen Gespür für Mittelmäßigkeit. Und für Feigheit, Unterwürfigkeit und Jasagerei. Wenn er einen schlechten Tag hatte, brauchte er unbedingt einen Sündenbock, und im ganzen Klassenzimmer roch es dann nach Blut. Margot genoss den Anblick, wie die Angst ihre Mitschüler durchrieselte. Sie hatten einen regelrechten Überlebensinstinkt entwickelt, und sobald Van Acker das Klassenzimmer betrat, spürten sie, ob der Hai an diesem Tag auf Jagd ging oder nicht. Wie die anderen spürte das auch Margot, an der Art, wie seine blauen Augen sie musterten, und an dem hämischen Grinsen, das die schmalen Lippen verzerrte. Die Kriecher verabscheuten Van Acker. Und sie hatten Angst vor ihm. Zu Beginn des Schuljahrs hatten sie irrtümlich geglaubt, sie könnten ihn mit ihrem Katzbuckeln besänftigen, aber leider hatten sie erfahren üssen, dass Van Acker nicht nur für jede Form von Schmeichelei unempfänglich war, sondern dass er sie
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