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Kindertotenlied: Thriller (German Edition)

Kindertotenlied: Thriller (German Edition)

Titel: Kindertotenlied: Thriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernard Minier
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obendrein ihre Fehleinschätzung teuer bezahlen ließ. Seine bevorzugten Opfer waren die, die ihre eingeschränkten Fähigkeiten („eingeschränkt“ im Maßstab der Elite, aus der sich Marsac zusammensetzte) durch Übereifer wettzumachen suchten. Margot gehörte nicht zu ihnen. Sie fragte sich, ob Van Acker sie schätzte, weil sie die Tochter ihres Vaters war, oder weil sie die wenigen Male, wo er sie sich vorgeknöpft hatte, wie aus der Pistole geschossen geantwortet hatte. Francis Van Acker mochte es, wenn man ihm die Stirn bot.
    „Servaz“, hatte er heute Morgen gesagt, während sie in Gedanken zu den Ereignissen der vergangenen Nacht abgeschweift war, „interessieren Sie sich nicht für das, was ich erzähle?“
    „Äh … doch … natürlich …“
    „Worüber habe ich dann gerade gesprochen?“
    „Darüber, dass sich in Bezug auf bestimmte Kunstwerke längst ein einhelliges Urteil herausgebildet hat. Wenn also im Lauf der Jahrhunderte sehr viele Personen zu der Einschätzung gelangt sind, dass Homer, Cervantes, Shakespeare und Victor Hugo überragende Künstler sind, bedeutet dies, dass die Aussage Über Geschmack lässt sich nicht streiten ein Trugschluss ist. Es ist also nicht alles gleichwertig, und der Ramsch, der mit Hilfe der Werbung als Kunst verkauft wird, das Massenkino und die Profitgier im Allgemeinen sind den großen Schöpfungen des menschlichen Geistes nicht ebenbürtig, und für die Kunst gelten nicht die elementaren Grundsätze der Demokratie, denn dort herrscht die erbarmungslose Diktatur der Besten über das Mittelmaß.“
    „Habe ich gesagt: ‚Es ist nicht alles gleichwertig‘?“
    „Nein, Monsieur.“
    „Dann legen Sie mir keine Worte in den Mund, die ich nicht benutzt habe.“
    Glucksen in der Klasse. Dieselben Schüler, die Van Ackers Zorn sonst als Blitzableiter dienten, genossen es, wenn es einen anderen erwischte. Kichern von ganz vorne. Sie hatte den Schmeichlern in der ersten Reihe, die sich verächtlich nach ihr umgedreht hatten, diskret den Stinkefinger gezeigt.
    Sie füllte ihre jungen, aber bereits nikotinverpesteten Lungen mit Tabakrauch und betrachtete das Trio David/Sarah/Virginie. Trotz der Entfernung und der Schülertrauben zwischen ihnen hielt sie ihren Blicken stand, während sie an ihrer winzigen Zigarette zog, ohne sie auch nur einen Moment aus den Augen zu lassen. Letzte Nacht hatte sie beschlossen, eine völlig andere Taktik zu verfolgen … eine dreistere. Das Wild aufscheuchen. Statt sich noch unauffälliger zu verhalten, wollte sie sich zeigen, sie in ihrem Argwohn bestätigen, sie in dem Glauben wiegen, dass sie etwas wusste. Wenn sie etwas mit dem Mord zu tun hatten, würden sie sich vielleicht bedroht fühlen und die Nerven verlieren.
    Eine Taktik, die nicht ohne Risiko war.
    Eine gefährliche Taktik. Aber ein Unschuldiger saß im Gefängnis, und die Zeit drängte.
     
    „Wo wurde dieses Foto aufgenommen?“, fragte Stehlin.
    „In Marsac. Am See … am Waldrand. Gleich neben dem Garten von Marianne Bokhanowsky, der Mutter von Hugo.“
    „Hat sie die Buchstaben entdeckt?“
    „Nein, ich.“
    Die Augen des Direktors weiteten sich.
    „Was hast du da gemacht? Hast du was gesucht?“
    Servaz hatte diese Frage erwartet. Von seinen Vater hatte er die Strategie übernommen, wann immer möglich die Wahrheit zu sagen; meist war sie für die anderen unangenehmer als für einen selbst.
    „Ich hab die Nacht dort verbracht. Ich kenne Hugos Mutter schon lange.“
    Der Direktor starrte ihn entgeistert an. Und er war nicht der Einzige: Auch Espérandieu, Pujol und Samira sahen ihn jetzt an.
    „Verdammt noch mal“, sagte Stehlin. „Das ist die Mutter des Hauptverdächtigen!“
    Servaz sagte nichts.
    „Wer weiß sonst noch davon?“
    „Dass ich letzte Nacht dort war? Bis jetzt niemand.“
    „Und wenn sie sich entschließt, das gegen dich zu verwenden? Wenn sie es ihrem Anwalt erzählt? Wenn der Richter das erfährt, wird er uns den Fall entziehen und die Ermittlungen der Gendarmerie übertragen!“
    Servaz dachte an den schleimigen Brillenträger, der neulich aufgekreuzt war und mit Hugo hatte sprechen wollen – aber er sagte nichts.
    „Verdammt, Martin!“, brüllte Stehlin. „An ein und demselben Abend befragst du einen Abgeordneten, ohne irgendjemanden davon in Kenntnis zu setzen, und anschließend verbringst … verbringst du die Nacht mit … bei der Mutter des Hauptverdächtigen! Dein Verhalten könnte schwerwiegende Konsequenzen haben, es könnte

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