Kindertotenlied: Thriller (German Edition)
Was führte sie im Schilde?
„Hast du eine Ahnung, was das sein könnte?“
Sie schüttelte den Kopf.
„Geh schlafen“, sagte er, selbst hundemüde.
„Wie lange sollen mich Vincent und Samira überwachen?“
Sie wollte sich schon wieder die Earphones in die Ohren stöpseln. Da fiel ihm etwas ein.
„So lange wie nötig“, antwortete er. „Was ist das für eine Musik, die du da hörst?“
„Was? Warum willst du das wissen? Kennst du sowieso nicht. Es ist Marilyn Manson.“ Sie gluckste. „Das ist wohl eher nicht dein Stil …“
„Würdest du das bitte wiederholen“, sagte er.
„Was?“
„Den Namen dieser Band …“
„Marilyn Manson. Warum? Was ist los, Papa?“
Servaz hatte das Gefühl, unter seinen Füßen täte sich ein Abgrund auf. Das Cybercafé … Sein Mund wurde ganz trocken, und ein Schweißschleier legte sich über sein Gesicht. Seine Finger begannen zu zittern, als er sein Handy einschaltete und in seiner Kontaktliste Espérandieu und Samira suchte.
Samira Cheung lag wieder im Dickicht hinter dem Gymnasium und fühlte sich, als wäre sie bei einer Spezialeinheit. Sie bereute bereits, was sie angezogen hatte: In ihrer Stretch-Jeans und ihrem allzu kurzen Top kitzelte das Gras sie am Nabel, und sie kratzte sich ständig. Zum Glück tarnten sie das schwarze Top und die dunkelblaue Jeans recht gut.
Von der Stelle, an der sie sich befand, hatte Samira einen hervorragenden Überblick über die gesamte Rückseite der Gebäude, von den Betonklötzen und der Zuschauertribüne des Sportplatzes bis zum Eingang zu den Pferdeställen, dem Seitenflügel mit den Schlafzimmern rechts, den Tennisplätzen, der vertieft gelegenen Rasenfläche und dem Eingang zum Labyrinth. Margots Fenster war erleuchtet … Und geöffnet. Sie meinte sogar den rötlichen Schein einer brennenden Zigarette und ein Rauchfähnchen erkannt zu haben. Das verstößt aber gegen die Hausordnung, junge Frau … Sie hatte einen Kaffee getrunken und eine Tablette Modafinil eingenommen, um nicht einzuschlafen, obwohl die Ereignisse dieses Abends genügend Adrenalin in ihr freigesetzt hatten, um sie wach zu halten. Sie hätte sich gern ein bisschen Death metal reingezogen, um noch etwas wacher zu werden, Cannibal Corpse zum Beispiel, dessen im Jahr 2002 neu aufgelegtes Album Butchered at Birth so aussagekräftige Titel wie Living Dissection (Vivisektion), Under the Rotted Flesh (Unter dem verfaulten Fleisch) oder Gutted (Ausgeweidet) enthielt. Aber sie wollte sich nicht von einem überraschen lassen, der sich durch den Wald von hinten an sie heranschlich, und sie wollte keine Kopfhörer mehr tragen. Ehrlich gesagt hasste sie die Vorstellung, diesen dichten, tiefen Wald in ihrem Rücken zu haben.
Sie versuchte sich so wenig wie möglich zu bewegen. Sie wollte nicht, dass die Internatsschüler sie entdeckten und sie zur Attraktion der Schlafsäle würde. Dennoch streckte sie sich hin und wieder in den Büschen und machte auch einige Lockerungsübungen. Sie dachte auch an den weiteren Umbau ihrer Ruine in einem Vorort von Toulouse. Heute war Dienstag, und der Mann, der ihr die Dusche einbauen sollte, hatte noch immer nicht angerufen.
Ihr Walkie-Talkie knisterte, und die Stimme von Espérandieu ertönte in der nächtlichen Stille.
„Was tut sich bei dir?“
„Alles ruhig.“
„Martin ist gerade aufgebrochen … Er ist völlig ausgeflippt. Er wollte hier bleiben. Die Gendarmerie hat auf seine Bitte hin am Eingang des Gymnasiums einen Streifenwagen stationiert. Margot hat die Anweisung bekommen, ihre Tür abzuschließen und unter keinen Umständen einem Unbekannten aufzumachen. Sie hat sich hingelegt.“
„Nicht wirklich. Ich kann sie sehen: Sie raucht eine Zigarette. Aber sie ist in ihrem Zimmer, das kann ich bestätigen.“
„Ich hoffe, du hörst keine Musik.“
„Alles, was ich höre, ist eine verdammte Eule. Und bei dir, alles ruhig?“
„Totenstille.“
„Glaubst du wirklich, er hätte den Mumm, hier aufzukreuzen?“
„Hirtmann? Ich weiß nicht … Würde mich wundern … Aber diese Geschichte mit der Musik von Marilyn Manson, das ist nicht ganz geheuer.“
„Und wenn er uns entdeckt?“
„Tja, dann würde er wohl Leine ziehen … Ich kann mir nicht vorstellen, dass er in eine Zelle zurück will. Wenn du meine Meinung wissen willst: Er ist weit weg von hier. Und lass uns nicht vergessen, dass wir in erster Linie hier sind, um Margot zu schützen, nicht, um ihn zu fassen.“
Samira sagte nichts.
Aber
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