Kindertotenlied: Thriller (German Edition)
an.
Plötzlich packte er mit der freien Hand ihr Gesicht und drückte mit ganzer Kraft; der Schraubstock seiner Finger quetschte durch die Wangen hindurch ihre Kiefer und Zähne. Er tat ihr weh. Sie wehrte sich, warf den Kopf hin und her, versuchte, ihn mit den Händen zurückzustoßen, ihn zu kratzen, aber er ließ nicht locker. Plötzlich durchzuckte sie ein rasender Schmerz wie ein Stromstoß. Er hatte ihr die Gabel tief in die Lippen gerammt; sie durchbohrte sie wie die Giftzähne einer Klapperschlange. Schon quoll das Blut aus ihrem Mund, den sie aufriss, um zu schreien. Im nächsten Moment wurde sie zum zweiten Mal von der Gabel getroffen, sie bohrte sich in das obere Zahnfleisch. Sie glaubte, vor Schmerzen verrückt zu werden, und das Blut schoss heraus wie eine Fontäne. Sie schluchzte, schrie und heulte, während die Gabel sie wieder und wieder traf, ihr Wangen, Lippen und Zunge zerhackte …
Dann hörte der Wahnsinn auf, wie er begonnen hatte. Urplötzlich.
Ihr Herz hämmerte wie verrückt. Sie hatte das Gefühl, dass es sich in ihrer Brust verdreifacht hatte. Ihr Mund und ihre blutverschmierte untere Gesichtshälfte brannten wie Feuer. Sie litt Höllenqualen. Sie rang nach Luft, versuchte ihr rasendes Herz zu beruhigen. Sie wusste, dass er sie beobachtete, auf eine Reaktion wartete. Schließlich kehrte er zufrieden an seinen Platz zurück.
„ Schwuchtel, Homo, kleines Stück Scheiße …“
Sie sah, wie er stehen blieb, er wandte ihr jetzt den Rücken zu. Sie nahm ihre letzten Kräfte zusammen, versuchte, die Schmerzen zu ignorieren.
„Aha! Oho!“, hämte sie. „Was für eine lächerliche Kreatur! … Zweitklassig … gewöhnlich, belanglos, erbärmlich … das ist der große Julian Hirtmann …“
Er wandte sich um. Er lächelte wieder.
„Glaubst du, ich durchschaue dein Spielchen nicht? Glaubst du, ich wüsste nicht, wozu du mich verleiten willst? Aber so wirst du mir nicht entkommen. Wir werden noch lange Monate, lange Jahre miteinander verbringen, du und ich …“
Bei diesen Worten spürte sie, wie ihr Mut nachließ. Aber sie bemühte sich, es nicht zu zeigen. Sie zerzauste sich das Haar, während sie verächtlich schnarrte; höhnisch lachte sie los, und ein spöttisches Funkeln tanzte in ihren Augen. Dann packte sie ihr Kleid und zerriss es, dass ihre nackten Brüste zum Vorschein kamen.
„Willst du deine Abende wirklich mit einer so vulgären, so unsympathischen Kuh verbringen wie mir? Monate-, jahrelang? Du findest doch bestimmte eine, die umgänglicher ist, oder? Eine neue … Denn mit mir ist es vorüber, mein Lieber. Du wirst mich nie mehr besitzen wie früher. Vergiss es.“
In einer wütenden Geste schmetterte sie das Plastikweinglas vom Tisch und zeigte mit einem Finger auf seinen Hosenschlitz.
„Hol ihn doch raus. Zeig ihn mir … Ich wette, dass er ganz weich und runzlig ist. Du kriegst nur einen hoch, wenn ich schlafe, oder? … Findest du das nicht … verdächtig ? Mach ich dir Angst, mein Süßer? Beweis, dass du ein Mann bist, los, hol ihn raus; zeig das Würmchen … Aber nein … Das kannst du nicht, oder? Von nun an werden alle unsere Abende so, mein Schatz … Damit musst du dich abfinden.“
Sie sah, wie groß seine Enttäuschung war. Würde er sie doch nur schnell aus dem Weg räumen. Aber sie wusste, dass er ihr diesen Gefallen nicht tun würde. Vorher würde er es ihr heimzahlen. Sie bereitete sich auf das Martyrium vor, sie dachte an alles, was sie anderen angetan hatte, an alle Fehler, die sie gern wieder gutgemacht hätte, an die Menschen, von denen sie gern Abschied genommen hätte … An ihren Sohn, ihre Freunde, an den, dem sie wieder begegnen würde, und an den anderen, den sie so sehr geliebt und doch verraten hatte … Still dachte sie an sie alle, schickte ihnen Worte der Liebe, während ihr Tränen über die Wangen rannen und er sich ihr wortlos näherte.
Sie wusste, dass es diesmal klappen würde …
Mittwoch
30
Enthüllungen
Es war 5.30 Uhr, und der Morgen graute, als Drissa Kanté begann, im Büro 2.84 Staub zu saugen. Niemand strebte einen Beruf an, der darin bestand, Teppichböden zu saugen und Schreibtische und Computer abzustauben; davon träumt kein Kind – weder in Afrika noch in Europa -, und doch war es eine Beschäftigung, die ihm Spaß machte, wie er zu seinem eigenen Erstaunen feststellte. #Trotz aller Beschwerlichkeiten hatte diese Arbeit den Vorteil, dass er sich seinen Gedanken überlassen konnte – und so reflektierte
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