Kindertotenlied: Thriller (German Edition)
sie dachte sich ihren Teil.
Falls sich eine Gelegenheit bieten sollte, den Schweizer zu ergreifen, hätte sie keine Hemmungen.
Mit zehn Jahren war Suzanne Lacaze fest davon überzeugt, die Welt wäre ein wunderbarer Spielplatz und alle würden sie lieben. Mit zwanzig hatte sie entdeckt, dass die Welt ein Ort gegenseitiger Verletzungen und Kränkungen ist, wo die meisten Menschen sich selbst und die anderen belügen – damals hatte ihre beste Freundin ihr den Mann ausgespannt, in den sie unsterblich verliebt war, und mit Tränen in den Augen waren ihrem hübschen Nuttenmäulchen Sätze entfallen wie „wir lieben uns“, „wir sind füreinander geschaffen“ oder „es tut mir so leid, Suzie“ … Heute, mit vierzig und ein paar Zerquetschten, wusste sie mit unerschütterlicher Gewissheit, dass die Welt das bevorzugte Spielfeld von Dreckskerlen, eine Hölle für die anderen war und Gott Arschlochweltmeister in allen Gewichtsklassen.
Sie lag in ihrem Bett und starrte zur Decke. Sie hörte ihn neben sich schnarchen. Er war vor kaum einer Stunde nach Hause gekommen, und obwohl das Phantom, das sich in ihrem Körper breitgemacht hatte, ihren Geruchssinn beeinträchtigte, hatte sie den Duft einer anderen Frau an ihm gerochen. Er hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, sich zu duschen.
Er war in letzter Zeit so aufmerksam zu ihr gewesen, so geduldig … so nett. Weshalb war er nicht immer so gewesen?
Red dir nichts ein, meine Gute. Er handelt nicht aus Liebe, sondern nur, um mit seinem Gewissen ins Reine zu kommen … Er hat sich nicht einmal die Mühe gemacht, sich zu duschen: Was brauchst du noch als Beweis?
Sie wollte in Frieden sterben … Plötzlich begriff sie, dass sie nur dann „in Frieden sterben“ konnte, wenn sie sich vorher gerächt hatte. Auf ihre Weise … Mit einer blendenden Klarheit, als wäre ihre eigene Mutter von den Toten zurückgekehrt, um ihr zu sagen: „Du musst!“, wusste sie plötzlich, dass sie gleich morgen diesen Polizisten anrufen würde, um ihm die Wahrheit zu sagen.
Zwischenspiel 3
Konfrontation
Die Spritze. Ehe sie das Bewusstsein verlor, in dem Moment, in dem die Nadel in ihren Arm eindrang, nahm sie all ihren Mut zusammen.
Sei stark. Jetzt ist der Moment …
Sie kam in dem großen, altmodischen Esszimmer wieder zu sich. Wie immer. Sie saß auf dem Stuhl mit hoher Rückenlehne, an einem Kopfende des großen Tischs. Ein breiter Ledergurt war um ihre Taille geschlungen, zwei weitere um ihre Fußknöchel.
Die Teller, die Kerzenständer, die Gläser, der Wein, die Musik. Mahler, natürlich … Dieser verdammte Mistkerl Gustav Mahler … Sie fragte sich, ob es ihr nach all diesen Monaten, in denen sie sich hinter einer Mauer aus Schweigen verschanzt hatte, gelingen würde, laut genug zu sprechen. Ob das Ödem an ihren Stimmbändern abgeheilt war.
Sie hatte keine andere Waffe als diese. Ihre Stimme …
„Stoßen wir an!“, sagte er fröhlich und hob sein Glas.
Normalerweise gehorchte sie. Sie liebte den Geschmack des Weins, sein Bukett, seinen befreienden Rausch. Genauso wie ihr frisch gebügeltes Kleid, den Duft der Seife und der Sauberkeit an sich, den köstlichen Geschmack der Speisen – nach all diesen Tagen, an denen sie in ihrem Kellerloch den immer gleichen faden, farblosen Brei in sich hineingewürgt hatte. Wie die anderen Male auch hatte sie die letzten 24 Stunden nichts zu essen bekommen. Er wollte, dass sie ausgehungert war … Und, bei Gott, das war sie. Ihr Magen und ihr Gehirn schrien ihr zu, sich auf den Wein, den dampfenden Teller zu stürzen. Sie starrte auf das Kunststoffglas, die Blume des Weines umschmeichelte ihre Nase. Verführerisch. Sie hatte Lust darauf … wahnsinnige Lust … Sie sehnte sich fast genauso stark danach wie sie sich in der ersten Zeit nach Rauschgift gesehnt hatte, das er ihr in ihrem unterirdischen Verlies vorenthielt, sodass die Entzugserscheinungen ihr beinahe den Verstand geraubt hatten.
Ihre Hände lagen flach auf dem Tisch. Sie begnügte sich damit, ihn mit einem leicht ironischen Lächeln anzusehen.
Sie sah, wie er irritiert die Brauen runzelte.
„Willst du nicht anstoßen?“, fragte er unbeirrt lächelnd. „Was ist los mit dir? Hast du keinen Durst?“
Sie starb vor Durst … Ihre Kehle war trocken wie Zunder.
„Ach komm, du weißt doch genau, dass das nichts bringt“, sagte er so sanft, wie er konnte. „Trink. Du wirst sehen: Dieser Wein ist wunderbar.“
Sie brach in ein schallendes,
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